Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Anfallsfrequenz sich erhöht hatte, sondern mit dem Ansteigen dieser Frequenz veränderte sich mitunter auch das Anfallsgeschehen selbst.
Ich fuhr also mit beiden Kindern in die Klinik nach Erlangen, wo wir das größte Zimmer bekamen. Vorsorglich machte ich den Stationsarzt darauf aufmerksam, dass meine Tochter einen Infekt der oberen Atemwege habe, dass ich allerdings glaubte, es sei Keuchhusten. Als beide Kinder in ihren Betten lagen und schliefen ging ich nach unten in die Halle, um zu Hause anzurufen. Als ich wieder nach oben fuhr – die Station lag im 4. Stock – hörte ich schon im Aufzug, in Höhe des 3. Stockwerks, meine Tochter weinen. Raus aus dem Aufzug, rein in unser Zimmer. Dort stand eine Schwester, auf dem Arm meine Claudia, die herzzerreißend weinte. In dem kurzen Moment meiner Abwesenheit hatte sie einen Hustenanfall bekommen. Bedingt durch den Keuchhusten, der vom Kinderarzt zu Hause als Infekt der oberen Luftwege diagnostiziert worden war, bekam sie keine Luft und musste abgesaugt werden. Nun waren meine beiden Kinder Patienten. Claudia hustete, musste ab und zu abgesaugt werden, Andreas hatte weiter Anfälle und wurde neu eingestellt. Dieses Mal sah man sofort, dass das Medikament, das zum Einsatz kam, wenig bringen würde.
Meistens begegnet man Menschen, die man eigentlich am liebsten überhaupt nicht treffen möchte, zwei Mal im Leben und so kam nun jener Oberarzt zu uns, der behauptet hatte, Blutdruckmessen bei kleinen Kindern sei unmöglich. Er wollte unbedingt ein Medikament einsetzen, das Andreas nachweislich schon einmal nicht vertragen hatte. Sein Argument war, dass mein Sohn inzwischen älter geworden sei und es durchaus möglich sei, dass er es jetzt besser vertrage. Ich war dagegen, doch er setzte es trotzdem an. Ich ergriff daraufhin die Flucht und setzte dieses Medikament zu Hause sofort wieder ab, bevor es größere Probleme verursachen konnte. Andreas ging es dadurch nicht besser, aber auch nicht schlechter.
NORMALER FAMILIENWAHNSINN
Andreas war ein sehr lebhaftes Kind und was er im Kopf hatte, das wollte er auch unbedingt umsetzen. Er sah süß aus, braun gebrannt, mit blonden Locken, die nun langsam dunkel wurden. Sein Gang war immer noch so, als herrsche Windstärke neun. Er hatte einen enormen Bewegungsdrang und war clever genug, zu erkennen, dass er mühelos dann entwischen konnte, wenn seine Schwester außerhalb des Kinderwagens war. Es war unmöglich ihn zu stoppen, also tat ich es mir nicht an, alleine mit den zwei Kindern größere Ausflüge zu unternehmen. Dankenswerterweise fand sich immer eine Oma, die bereit war, mit uns spazieren zu gehen.
Andreas’ Schwester war genau das Gegenteil von ihm: ruhig und gelassen, damals schon. Der perfekte Ausgleich.
Andreas entdeckte die Welt der Schlüssel und der Knöpfe und vor allem, dass man durch das Drücken dieser Knöpfe irgendwann einmal die Mutter auf den Plan rief. Knöpfe, die man drücken konnte, gab es am Radio, an der Eingangstür, auf Spielsachen, vor allem aber am Fernseher und dieser war das spannendste aller Geräte für ihn. Schlüssel gab es an keinem Schrank, an keiner Tür mehr bei uns, nur noch an der Haustür. Einmal schaffte er es tatsächlich, mich auszusperren. Natürlich hätte er die Tür wieder öffnen können, aber es war sehr viel spannender, die eigene Mutter draußen vor der Tür um Einlass bitten und betteln zu hören. Dass ich wieder hineinkam war der Tatsache zu verdanken, dass Dieter in Rekordzeit vom Büro nach Hause kam, nachdem ich ihn angerufen hatte. Andreas staunte nicht schlecht, als ich die Tür von der anderen Seite aus öffnete.
Durch sein Überall-und-nirgends-Sein hielt mich Andreas schon ziemlich auf Trab und dadurch, dass beide Kinder zwar nachts in unser Bett kommen konnten, dort aber keineswegs gleich weiterschliefen, war ich ungefähr fünf bis sechs Mal pro Nacht damit beschäftigt, meine Kinder zu beruhigen und sie in den nächsten Schlaf zu streicheln. Am Tage rächte sich das: Ich war hundemüde. Also legte ich mich ins Kinderzimmer auf den Fußboden – nur nicht zu bequem liegen – und holte in Zehnminutenabschnitten ein wenig von meinem verlorenen Schlaf nach. Ich legte mich so hin, dass meine Füße der Widerstand waren, der meine Kinder daran hinderte, die Zimmertür zu öffnen und zu entwischen. Andreas und Claudia fanden das immer toll, turnten auf mir, tobten und spielten um mich herum.
IM KRIECHGANG ZURÜCK
Andreas entwickelte sich durchaus noch im
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