Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
bewahren, ihm so viel Raum wie möglich geben. Ich fand für mich, dass ich ein Recht auf mein eigenes Leben hatte, dass ich fortan auch mal sagen sollte: „Ich will!“.
Mit Letzterem begann ich sofort. Ich rief meine Freundin an, sie lag mir schon so lange in den Ohren, ich solle mit ihr in einen Töpferkurs gehen. War ja nicht so mein Ding, aber mit ihr würde es mir eine Menge Spaß machen.
Meine sämtlichen getöpferten Gefäße hatten Buckel oder Bäuche, waren alle krumm und schief und alles andere als schön. Aber es hatte Spaß gemacht.
Danach ging ich in einen Kurs, in dem man Porzellanpuppen herstellte, was mir mehr Spaß machte. Ich stellte zwei identische Puppen her, eine für meine Schwester und die andere für mich. Danach belegte ich mit meinem Mann einen Tenniskurs. Wir waren eher mäßige Spieler, aber selbst das machte uns Spaß.
FREUD UND LEID
Wir lebten das Leben einer normalen Familie, in dem Rahmen, der uns durch Andreas’ Krankheit gesteckt war. Mit der Zeit zeigte sich immer deutlicher, dass er übermäßige Freude fast immer mit einem Anfall quittierte, auch dann, wenn ich mich auf meine eigene Geburtstagsfeier freute. Während ich dabei war, die Vorbereitungen dafür zu treffen, war es dann so weit, Andreas hatte einen Anfall. Das war halt so, aber wir fanden dank seiner Oma einen Weg: An Tagen, wo es bei uns auf Grund von Feiern hoch her ging, brachten wir Andreas zu meiner Schwiegermutter. Er und sie, das war eine weitere Einheit, neben der mit seiner Claudia. Sie hatte eine unendliche Geduld mit ihm, konnte seine Anfälle aushalten, war immer verwundert, dass ich kurz nach einem Anfall bei ihr anrief, um zu hören, wie es Andreas ging. Sie fand mich unheimlich, wenn ich die Ahnung hatte, Andreas könnte einen Anfall haben. Sie war es, die mich immer unterstützte, bei der Andreas über die Tage war, als seine erste und dann später auch seine zweite Schwester geboren wurde. Sie war ein sicherer Hafen für ihn, sie puzzelte mit ihm, schrieb mit einer Ausdauer die Zahlen auf, die er aus einer kleinen Lottokugel gezogen hatte, und klebte Fußballbilder mit ihm in ein Album. Stundenlang. Denn das war seine wahre Leidenschaft. Als er mit diesem Hobby anfing wusste er immer, in welchem Album (er hatte pro Saison mindestens 10, wenn nicht gar 20) welcher Fußballer auf welcher Seite fehlte. Auch war unser Andreas in seinen jungen Jahren immer unser wandelnder, zuverlässiger Geburtstagskalender.
Mehr und mehr passten wir uns als Familie an Andreas an, aber ohne dabei unsere eigenen Interessen zu vernachlässigen. Mein Babysitterring funktionierte hervorragend und wir nahmen uns zwei oder drei Mal eine Betreuung für ihn auch mit in den Urlaub.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt dachten wir gar nicht mehr darüber nach, ob unser Andreas behindert war oder nicht, er war eben wie er war. Und wer uns nicht mit ihm akzeptierte, der brauchte auch ohne ihn nicht auf uns zu zählen. Es stand nicht auf unserer Tagesordnung, sich über Andreas’ Krankheit auszulassen, sie war schlichtweg zur Normalität für uns geworden. Natürlich war es manchmal unendlich schwer, zuzusehen, wenn er wieder mal einen Anfall hatte. Hilflos daneben zu stehen, nichts anderes tun zu können, als darauf zu warten, dass der Anfall vorbei geht. Aber das alles war nun mal Andreas, so war er und so liebten wir ihn. So lange er nicht erwachsen war, so lange ich ihn hochheben und in sein Bett oder auf die Couch bringen konnte, war das alles kein Problem. Anfälle, die er unterwegs hatte, waren einfach zu managen, so lange er in einen Buggy passte.
Hier konnte ich ihn auch vor neugierigen Blicken vorbeigehender Passanten schützen, konnte ihn hineinsetzen, wenn er mitten in der Bewegung wegen eines Anfalls innehielt. Manchmal boten Passanten Hilfe an, manchmal spiegelte sich ihn ihren Gesichtern einfach nur Entsetzen wider, wenn sie sahen, was sich da abspielte. Je nach Tagesform reagierte ich darauf mal mit Schulterzucken, mal mit bösen Blicken. Ich weiß selbst, dass man sich behinderten Menschen gegenüber hilflos fühlt, weil man nie weiß, ob Hilfe willkommen ist. Das geht mir selbst nicht anders.
Solange man Andreas seine Behinderung nicht ansah, kam es auch mal zu unliebsamen verbalen Zusammenstößen. Wenn genervte Frauen meinten, in mir eine inkonsequente Mutter zu erkennen, die ihrem Kind, das nach langer Warterei munter durch die Bank lief und freundlich sein derzeitiges Standardwort „Arschloch“ rief, keinen
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