Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Andreas, Liebhaber von Schlüsseln und Reflexhämmern aller Art, zukommen sollte. Begegnungen mit diesen hatte er ja schon reichlich gehabt und so zeigte er der Amtsärztin dort sein ganzes Können. Er nahm nach der Untersuchung den Reflexhammer und prüfte seine eigenen Reflexe. Als die Ärztin das sah, brach sie in völliges Entzücken aus: „Wie er mich nachmacht! Wie er mich imitiert!“, ohne darüber nachzudenken, dass der Junge ein solches Gerät besser kannte als einen Schnuller.
Gleich darauf, als ahnte er, dass es seine Sternstunde sein sollte, ging Andreas einer Glasvitrine, die in dem Raum stand, öffnete und schloss die Tür mittels des Schlüssels, der im Schloss steckte. Aber nicht einfach nur so, nein! Er zog den Schlüssel komplett raus, steckte ihn sorgfältig wieder hinein und schloss mit einer diebischen Freude auf und zu. Das entlockte der Ärztin abermals einen entzückten Ausruf: „Wie geschickt er mit dem Schlüssel umgeht! Wie er das kann!“, und an mich gewandt: „Ihr Sohn ist doch völlig in Ordnung, was wollen Sie denn?“ Nach weiteren Einlagen von Andreas und gefühlten drei Stunden, die nur knappe zehn Minuten waren, stand ich mit einem plötzlich gesunden Sohn auf der Straße, der ein gesundes Selbstbewusstsein hatte und bestimmt kein Anfallsleiden, geschweige denn irgendeine Krankheit oder gar Behinderung. Ich war zu überrascht, um darauf reagieren zu können, war wie vor den Kopf gestoßen und träumte auf dem Heimweg davon, was ich der Amtsärztin alles hätte sagen können. Das verärgerte mich noch mehr und zu der Unverschämtheit der Ärztin kam noch der Ärger über mich selbst hinzu.
Ich fuhr also mit meinem kerngesunden Sohn nach Hause und rief umgehend Dieter auf der Arbeit an, um über ihn mein Füllhorn der Entrüstung und des Ärgers auszuschütten. Er rief gleich auf dem Gesundheitsamt an, erfuhr dann, dass die Dame jahrelang in der Psychiatrie tätig gewesen war, was ihm nur noch ein trockenes: „Drinnen oder draußen?“ entlockte.
Wir legten, ohne den Bescheid abzuwarten, sofort Beschwerde ein und mussten nun noch einmal dorthin. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich beim zweiten Besuch in äußerst aggressiver Stimmung gewesen war. Unserem Antrag wurde stattgegeben. So etwas ist mir niemals wieder passiert.
In den folgenden Jahren hatte ich aus anderen Gründen öfter mit Begutachtungen zur Feststellung des Grades der Behinderung zu tun. Zu 90% waren die Begutachtungen schlichtweg schlecht: Das, was die behandelnden Hausärzte und Spezialisten zu ihren Patienten geschrieben hatten, wurde entweder nicht richtig gelesen oder als nicht relevant angesehen, weil hinter jedem Wort vermutet wurde, dass dies von den Ärzten aus Gefälligkeit ihren Patienten gegenüber so geschrieben worden war.
Wir bekamen nun etwas Geld als Beihilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz. Ich betrachtete dieses Geld als eine Leistung, die uns gewährt wurde, um uns zu unterstützen und verwendete es auch so. Ich legte mir eine Kartei von Babysittern an, um auch mal mit meinem Mann oder mit Freunden ausgehen zu können und dabei nicht immer auf die Großeltern zurückgreifen zu müssen. Dieses Jahr ohne Anfälle war toll, wir alle genossen jede Minute davon. Andreas entwickelte sich, holte sogar noch einiges auf, spielte mir immer noch Streiche, rannte immer noch, als müsse er gegen Windstärke neun ankämpfen, hatte hin und wieder mal einen Infekt, ansonsten war alles völlig in Ordnung. Claudia entwickelte sich gut, spielte so manche Streiche mit, die beiden waren ein Herz und eine Seele. Ich hatte keine Chance gegen sie. So hätte es weitergehen können.
DIE ZEIT DANACH
Fast pünktlich ein Jahr nach Einnahme der ersten Dosis dieses Wundermedikaments kam der erste Anfall. Dann der zweite, der dritte, danach hörte ich auf zu zählen. Ich fuhr noch einmal in die Kinderklinik nach Erlangen. Die Einstellung wurde überprüft, die Dosis nochmals korrigiert, aber komplette Anfallsfreiheit hatten wir in diesem Umfang nie wieder. Niemals mehr auch nur einen Monat ohne Anfälle.
Andreas war nun etwas über vier Jahre alt, niemand wusste wirklich, was er hatte, immer stand da „Verdacht auf…“. Nicht zu wissen, wohin es geht, immer im Unklaren zu sein, war für mich das Schlimmste. Ich hatte doch meinen Sohn gesehen, hatte die vielen Anfälle gesehen und mir längst keine Illusionen mehr auf einen gesunden, normalen Sohn gemacht. Weg mit den Bildern aus meinem Kopf, die uns
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