Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Einhalt gebieten konnte. Als ich ihn dann rief, ihm seine Jacke hinhielt und – innerlich kochend – mit lieblicher Stimme sagte: „Andreas, komm, wir gehen!“, vernahm ich aus der Reihe hinter mir ein aufatmendes: „Gott sei Dank!“
Das kam mir gerade recht, um meinen Ärger abzulassen. Ich drehte mich um und sah den beiden genervten Frauen ins Gesicht: „Als ich schwanger war rechnete ich zu keinem Zeitpunkt damit, dass mein Kind behindert sein könnte. Nun ist er es und um nichts in der Welt würde ich ihn hergeben wollen.“
Als ich Andreas an der Hand hatte und mich noch einmal umdrehte, sah ich mit Wohlwollen, dass beide Damen puterrot angelaufen waren. Das tat gut und ersparte Andreas eine schimpfende Mama.
Je älter er wurde, desto dunkler wurden seine Locken, füllig war er schon bei seiner Geburt und war es immer noch, bis ins Erwachsenenalter hinein. Seine motorische Entwicklung ließ zu wünschen übrig, sein Gang hatte immer noch diese Sturm- und Drangphase, er rannte immer; langsam gehen, das schien er nicht zu lernen. Vielleicht wollte er das gar nicht, wollte lieber mit mächtigen Schritten durchs Leben gehen. Er sprach ohne Fehler, anstatt die Hand zu geben und „Guten Tag!“ zu sagen, gab er immer die Hand und sagte: „Becker!“, wo immer er das auch her hatte. Wir amüsierten uns darüber, das war eben seine Art der Begrüßung.
Dass er im Alter von ungefähr sechs Jahren aufhörte, sich intellektuell weiterzuentwickeln, merkte man bei flüchtigen Begegnungen mit ihm nicht und auch wir brauchten eine ganze Weile um das zu sehen, zu sehr hatten wir uns an unseren Andreas gewöhnt, wie er war. Wir sahen ihn immer noch nicht durch die rosarote Brille, nahmen es durchaus wahr, das nun langsam das einsetzen würde, was mir Ulli damals gesagt hatte. Aber wir waren zufrieden, es hätte schlimmer sein können. Er konnte so fröhlich sein, sich an dem einzigen Gänseblümchen, das dem Rasenmäher entkommen war, erfreuen. Er war der einzige, der es überhaupt fand. Er konnte lachen, auch wenn ihm zum Weinen zumute war, weil er den nächsten Anfall schon spürte. Er ließ sich bis um Abwinken kitzeln und kitzelte ebenso lange zurück. Er störte seine Schwestern beim Spielen und sie ließen sich gerne stören und bezogen ihn, wenn das möglich war, mit ein. Wir waren zufrieden in unserer kleinen, heilen Welt.
WIEDER EINMAL SCHWANGER
Meine beiden Großen, Andreas und Claudia, waren inzwischen in der Schule und ich überlegte einen Moment, ob nun der Zeitpunkt gekommen war, um meinen sehnlichsten Wunsch Realität werden zu lassen: mein Abitur nachzumachen. Ich hätte mich zu Hause gelangweilt, bin nicht der Typ, der darin aufgeht, allein für Haus und Herd da zu sein. Bevor es dazu kam war ich erneut schwanger. Keinen Gedanken verschwendete ich an eine Abtreibung, dennoch ließ ich eine Fruchtwasseruntersuchung machen. Alles in Ordnung, das Mädchen war gesund – und trotzdem blieb während ihres ersten Lebensjahres die Angst, dass dem doch nicht so sei. Im Mai 1990, Andreas war nun schon zehn Jahre alt, wurde seine kleine Schwester Christine geboren. Von nun an nannte er Claudia seine große, Christine seine kleine Schwester.
Zwei Jahre später zogen wir nach Berlin, weil mein Mann dorthin versetzt worden war. Andreas’ Arzt war schon einige Zeit vor uns dort hingezogen, sodass seine Behandlung nicht mehr mit einem Flug verbunden war.
Bei einem dieser Flüge brachte mich Andreas in arge Bedrängnis. Wie alle anderen Jungen in seinem Alter hatte er einen Narren an Spielzeugpistolen gefressen. Ich hatte, bevor wir in Richtung Flughafen fuhren, so aufgepasst, dass er keine in der Tasche hatte. Wir standen gerade an, um unser Handgepäck checken zu lassen, als er in seine Tasche griff, um eine Pistole hervorzuzaubern. Zu dieser Zeit schien alle Welt verrückt zu sein. Die Mauer war gerade gefallen, niemand wusste wirklich, was nun geschehen sollte. Hinter der Abfertigung standen Grenzpolizisten mit Maschinengewehren, die auf mich hypernervös wirkten. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich sah uns schon am Boden liegen, die Maschinengewehre aller Beamten auf uns gerichtet. Als wir an der Reihe waren, machte ich einen Polizist darauf aufmerksam, dass ich nun gleich eine Spielzeugpistole aus Andreas’ Tasche ziehen würde. Er war aufgrund meiner Bedenken, die ich ihm in den schillerndsten Farben schilderte, amüsiert, nahm die Pistole entgegen und packte sie in ein Kuvert, das wir nach
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