Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
an der Häufigkeit seiner Anfälle verzweifelte, sah ich sein Leben vor mir, immer abhängig von ihn betreuenden Menschen, immer geprägt von Schmerzen, von dem Gefühl eines kommenden Anfalls, das er mir niemals anzeigen konnte. Andreas spürte sehr wohl Schmerzen, konnte dies aber niemals präzise äußern. Ich hatte immer Angst, so etwas Simples wie zum Beispiel eine Blinddarmentzündung zu übersehen.
Ich sah sein Leben ohne Freunde, ohne Berufsausbildung, ohne Freundin und ohne Kinder. Ich sah mein Leben: ein Leben geprägt von der Sorge um meinen Sohn, geprägt von der Uhr, auf die ich unzählige Male am Tag schaute, geprägt von Medikamenten, geprägt von einer Disziplin, wie ich sie nie leben wollte. Ich sah seine Schwester und mein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, verbunden mit der immerwährenden Angst, sie vernachlässigt zu haben. Ich war ratlos, konnte nur noch mit den Schultern zucken, Tränen hatte ich in diesen Momenten keine.
Dann, in der Vorweihnachtszeit, hatte Andreas einen Anfall, der mir Angst und Schrecken einjagte. Es war ein Anfall mit absolutem Atemstillstand. Bislang hatte er während der Anfälle immer geatmet, wenn auch in Form einer Schnappatmung. Nach einer unendlichen Zeit der Stille fing Andreas wieder an zu atmen, selbstständig, ohne das Eingreifen eines Arztes. Aber genau dieser Anfall war es, der mich zwang, noch einmal über meine, unsere und ganz besonders Andreas’ Zukunft nachzudenken. Das tat ich dann auch, nachdem ich ihn versorgt und in sein Bett gelegt, Claudia dabei getröstet und zur Oma gebracht hatte. Ich stellte mich dazu in die Küche und begann, Weihnachtsplätzchen zu backen. Eine seltsame Art um nachzudenken, für mich war es die beste.
Ich stach also Plätzchen aus, während ich Bilanz zog. Was hatte ich? Eine tolle Familie, zwei wundervolle Kinder. Meine Idee war es immer gewesen, irgendwann entweder wieder arbeiten zu gehen, oder aber, und dieser Wunsch war stärker, mein Abitur zu machen. Was war jetzt in diesem Moment wirklich möglich? Nichts von beidem. Würde das bedeuten, dass ich meinen Traum für immer aufgeben musste? Was, wenn ich mich mit 70 Jahren umdrehen und auf mein Leben zurückschauen würde? Was, wenn Andreas mal nicht mehr aus einem Anfall herauskäme? Was, wenn mein Leben vorbei wäre, ohne dass ich eine Chance gehabt hatte, es wirklich zu leben, mit allen Höhen und Tiefen? Was würde aus Andreas werden, wenn er erwachsen war? Würde er die Möglichkeiten haben, doch mal Freunde oder eine Freundin zu haben? Wann hatte ich das letzte Mal gesagt: „Ich will!“? Und es nicht nur gesagt, sondern es dann auch durchgezogen? Würde ein behindertes Kind auch von zu Hause ausziehen? Wenn ja, wohin und wann? War es normal, dass sich auch unsere Wege irgendwann trennen, dass auch hier ein ganz normaler Ablöseprozess stattfinden würde? Wo würde Andreas dann sein? Und wo würde ich sein? Hatte ich als Mutter eines behinderten Kindes das Recht auf ein eigenes Leben? Was war für ihn wichtiger: Qualität oder Quantität? Ein relativ kurzes Leben mit der bestmöglichen Qualität, oder ein schlechtes Leben, so lange es ging? War es in Ordnung, kein Versuchskaninchen für neue Medikamente aus Andreas zu machen, sondern nur dann andere Medikamente einzusetzen, wenn sie wirklich sinnvoll waren? War es gerechtfertigt, ihn dafür zu quälen, dass am Ende doch nichts herauskam? Würde ich mich dafür hassen, dass ich diese Qualen nicht verhindert hatte? Würde ich seine Krankheit und Behinderung vielleicht einmal dafür hassen, dass ich mein eigenes Leben nicht leben konnte?
All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich die Plätzchen ausstach, sie verzierte und buk. Am Ende, als das letzte Blech im Ofen war und ich die Küche aufräumte, sah ich meinen Weg, wusste ich, dass ich mich selbst nicht aufgeben, mein Recht auf ein eigenes Leben nicht aus den Augen verlieren durfte. Andreas würde eines Tages ausziehen, ganz normal, wie jedes Kind, das erwachsen ist, oder auf dem Weg dorthin. Ich stellte fest, dass mir seine Lebensqualität über seine Lebensquantität ging. Ich hatte als Mutter nicht das Recht, ihn zu schlechterer Lebensqualität zu verdammen, nur weil ich ihn aus meinem Egoismus heraus nicht gehen lassen konnte. Ich beschloss, sehr genau hinzuschauen, wenn mir Untersuchungen angeboten würden und fortan darauf zu verzichten, mit einer Ausnahme: wenn Ulli anrufen würde. Ich würde Andreas in Zukunft vor allzu viel Quälerei
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