Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
dem Aussteigen in Berlin wiederbekamen. Ich ließ die Pistole im Kuvert und packte sie für den Rückflug in den Koffer. Solche Aufregungen fielen nun weg.
Unser Leben wurde direkt nach unserem Umzug etwas komplizierter, ich musste neue Babysitter suchen, bekam nun immer brühwarm von Claudia berichtet, was die so alles machten und was nicht. Da war keine Oma mehr, die eben mal einspringen konnte. Also suchte ich weiter, fand aber nie mehr das, was ich zuvor hatte. Die Zeit verging, Andreas wuchs und wuchs und war längst nicht mehr leicht genug, als dass ich ihn hätte tragen können. Nach einem Anfall schien er immer doppelt so schwer zu sein. Wir konnten ihn bald nur noch dort liegen lassen, wo der Anfall ihn überrascht hatte, ein Kissen unter seinen Kopf und eine Decke über ihn gelegt mussten wir nun warten, bis er wieder so weit fit war, dass er zumindest zur Couch gehen konnte. In jungen Jahren hatte er einen Schutzengel. Er hatte sich während der Anfälle nie Verletzungen zugezogen. Als er älter wurde veränderte sich das, so wie sich auch die Anfälle veränderten. Wenn er früher eher in sich zusammensackte wenn ein Anfall begonnen hatte, fiel er jetzt mit einem Schlag wie ein gefällter Baum um und schlug ungebremst auf der Erde auf.
Andreas besuchte eine Schule für geistig behinderte Kinder, wurde jeden Morgen mit dem Bus geholt und jeden Nachmittag wieder zurückgebracht. Irgendwann machte uns jemand darauf aufmerksam, dass man in Berlin Einzelfallhilfe beantragen konnte, was ich dann auch tat. Sein Einzelfallhelfer war sehr nett und unternahm mit Andreas einiges, was mich für wenige Stunden entlastete. Andreas fuhr nun auch jährlich in den Urlaub – ohne uns – was ein Schritt in Richtung Abnabelung war. Meist klappte das hervorragend, einmal nicht, da wurde er zurückgebracht, da er sich eine Verletzung an der Nase zugezogen hatte. Er musste operiert werden und da er schon mal in Narkose lag, wurden auch gleich seine Zähne saniert. Ansonsten war die Zeit, in der er im Urlaub war, entspannend. Mal nicht auf die Uhr gucken, nicht geregelt leben, auch mal spontan sein können, am Abend mal länger in einer Gartenwirtschaft sitzen bleiben.
Es passierte nun öfter, dass Andreas bei einem Anfall auch mal unglücklich stürzte, was bei seiner Größe oftmals einen Aufenthalt in der Ersten Hilfe des nächstgelegenen Krankenhauses nach sich zog. Ich war immer bei ihm, kam so schnell es ging, wenn ich gerufen wurde.
Man kann schon so manche Dinge erleben, wenn man in einer Ersten Hilfe ist: Einmal hatte Andreas einen Anfall, als er mit seinem Einzelfallhelfer unterwegs war. Dabei stürzte er und zog sich eine ordentliche Platzwunde zu. Ein Krankenwagen der Berliner Feuerwehr sah dies zufällig und brachte ihn in die Erste Hilfe des nächsten Krankenhauses. Als ich ankam, war er gerade beim Röntgen. Als er aus dem Röntgenraum kam, war ich da und wich nicht mehr von seiner Seite. In dem Behandlungsraum der Ersten Hilfe waren die einzelnen Liegen durch Vorhänge voneinander getrennt. Das fand ich nicht gut, es musste ja nicht jeder mithören können. Der Oberarzt rauschte herein, zog den Vorhang zu, ließ ihn dabei aber einen Spalt breit offen.
„Die Mama schicken wir jetzt aber raus“, sagte er zu Andreas gewandt, der ihn völlig entgeistert anschaute.
„Nein“, antwortete ich freundlich lächelnd, „die Mama bleibt da!“
Noch ehe ich das begründen konnte, wiederholte der Oberarzt seinen Satz, dieses Mal mit mehr Nachdruck gesprochen und an seinen Assistenzarzt gewandt, so als wolle er diesem sagen: „Na wir wollen doch mal sehen, ob sie geht oder nicht.“
Auch ich wiederholte mich: „Nein, die Mama bleibt da.“
Dieses Mal aber war ich schneller als er: „Wie Sie sicher erkennen können, ist mein Sohn geistig retardiert und ich meine, in diesem Fall ist es besser, wenn die Mama hier bleibt.“
Damit hatte ich bei ihm natürlich alles verspielt, er schaute kurz auf das Röntgenbild, dann auf Andreas’ Wunde und ging mit den Worten: „Gebrochen ist nichts“, und an seinen Assistenten gewandt: „Versorgen Sie bitte die Wunde!“, hinaus.
Herrgott, er hätte sich das ersparen können, wenn er mir gleich beim ersten Mal Zeit für eine Erwiderung gegeben hätte. Dumm gelaufen.
Andreas wurde älter und langsam, für uns fast unmerklich, kam er in die Pubertät. Er, der geistig immer ein Kind bleiben würde, sollte zu einem Mann werden. Der erste Schritt in Richtung Erwachsensein ist
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