Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Versorgung gewährleistet war. Andreas würde dort weiter zur Schule gehen können. Alles kam uns großzügig vor, es gab Einzelzimmer und Gemeinschaftszimmer. Andreas würde wegen seiner Epilepsie ein Einzelzimmer bekommen, was auch ohne seine Krankheit besser gewesen wäre, da er trotz seines jugendlichen Alters schon fürchterlich schnarchen konnte.
Als wir gegangen waren schwiegen wir, weil wir wussten, dass wir vor unserer Haustür das gefunden hatten, was wir gesucht hatten. Dennoch ließen wir uns mit einer Entscheidung noch ein paar Tage Zeit. Dann sagten wir zu. Ich fühlte mich elend dabei.
Am 6. Januar 1997 sollte Andreas im HPZ, wie die Einrichtung kurz genannt wurde, einziehen. Wie sollte ich ihm das sagen? Ich war zu feige. Ihm einfach sagen: „So, du ziehst nun aus“, konnte ich nicht.
Gesundheitlich ging es mir nicht gut und ich musste ins Krankenhaus, daher entschied ich mich, ihm klar zu machen, dass er in der Zwischenzeit ins HPZ ziehen würde und wenn es ihm gefallen würde, dann…
Den Rest ließ ich offen.
CLAUDIAS KAPITEL
Wenn ich an meinen Bruder Andreas denke und das nicht nur so, wie man an einen Freund denkt, sondern wirklich über ihn nachdenke, tauchen in meinem Kopf unzählige Bilder auf.
Bilder von heftigen Anfällen, ausgeschlagenen Zähnen, Platzwunden, einem frechen Grinsen, immerguter Laune.
Ich bin in dem Wissen aufgewachsen, dass mein Bruder anders ist als Andere. Dass er behindert ist und nie normal sein wird. Aber was bedeutet das für ein Kind? Gar nichts. Andreas war mein Bruder und ich habe ihn uneingeschränkt mit jeder Faser meines Herzens geliebt. Es gab nie auch nur eine Situation in meinem Leben, in der dies nicht so gewesen wäre, es war eben normal. Die Normalität meines Seins endete, als ich mich weiterentwickelte und er nicht. Als ich begann, ihn als zwei Jahre jüngere Schwester geistig zu überholen. Aber auch das wäre mir vermutlich als kleines Kind nie aufgefallen. Doch es gab eine Situation, mit der ich schlagartig aufhörte, ein Kind zu sein und meinen Bruder als normal anzusehen. Dieser eine Abend änderte mein ganzes Leben.
Meine Mama, Andreas und ich saßen eines Abends zu Hause auf der Couch vor dem Fernseher und aßen Abendbrot.
„Oh nein, nicht jetzt“, rief meine Mama plötzlich und ging zu Andreas.
Ich wunderte mich, er schaute doch nur zur anderen Seite. Nicht mehr zum Fernseher, als hätte er ein Geräusch gehört und sei kurz abgelenkt. Ich fand an der Situation nichts Dramatisches. Plötzlich begann sein Körper heftig zu zucken, er verdrehte die Augen und ich rannte raus. Ich stand vor dem Spiegelschrank im Schlafzimmer meiner Eltern und sah zu, wie mir die Tränen die Wangen herunter liefen. Mein Bruder, mein über alles geliebter Bruder würde nun sterben. Ich war mir sicher, dass ich die Zeichen richtig gedeutet hatte. Meine Mama kam kurz darauf zu mir und erklärte mir alles. Andreas würde nicht sterben, nichts würde anders sein als vorher. Doch sie irrte sich, etwas war anders als vorher, nämlich ich.
Heute, gute zwanzig Jahre später, sitze ich also da und überlege, wie ich jedem, der dieses Büchlein liest, deutlich machen kann, wie es ist, einen behinderten Bruder zu haben, sich schon als Kind darauf einzustellen, dass man immer, immer, immer für ihn da sein wird. Und wie es vor allen Dingen ist, wenn man merkt, dass dieser Jemand viel will, aber bestimmt nicht, dass man immer für ihn da ist. Mehr noch, dass dieser Jemand von der ständigen Fürsorge genervt ist. Dass er in einer Wohngruppe lebt und gar nicht daran denkt, länger als das obligatorische Wochenende zu Hause bei seiner Familie zu sein. Wenn man merkt, dass nicht wir ihn erzogen haben, sondern er uns. Alles, was ich heute bin, jeden einzelnen Charakterzug habe ich ihm zu verdanken. Er hat mir gezeigt, dass es nicht die großen Dinge im Leben sind, auf die es ankommt, sondern die kleinen. Er hat mir deutlich gemacht, dass all die gesellschaftlichen Zwänge, die uns oktroyiert sind, wie Benehmen in der Öffentlichkeit, Zurückhaltung, Etikette, nichts weiter als Lachnummern sind. Dies sind bestimmt nicht die Dinge, auf die es im Leben ankommt. Aber was rede ich hier lange rum? Durch Beispiele lässt sich am besten zeigen, was man meint:
Ich war mit Andreas alleine im Berliner Zoo unterwegs. Da er mich an Höhe und Breite übertraf und ich nicht im Stande war, ihn bei einem Anfall halten zu können, habe ich ihn in seinem Rollstuhl durch die Gegend
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