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Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Titel: Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gitta Becker
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für Andreas’ Konfession die Konfirmation. Als er 14 Jahre alt war, wurde er konfirmiert. Sein Pfarrer und seine Mitkonfirmanden achteten darauf, dass er nicht abhaute, dass er beim Einzug in die Kirche brav in der Reihe blieb. Es war schon fast ein Wunder, dass Andreas nicht jeden Anwesenden mit Handschlag begrüßte, was er ja so gerne tat. Mit dem Pfarrer sprachen wir ab, uns bei der Einsegnung hinter ihm aufzustellen, um ihn vor den neugierigen Blicken der Kirchengemeinde zu schützen. Ich hatte Ulli mit seiner Familie eingeladen, es kann ja nicht das Schlechteste sein, seinen Arzt in der Nähe zu haben. Aber alles ging gut, der Tag verlief ohne epileptische Zwischenfälle. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich wäre nicht stolz auf meinen Sohn gewesen. Aber ich würde auch lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte während der Zeremonie nicht wie ein Schlosshund geheult. Ich war neidisch auf die Mütter, deren Söhne da vorne standen und gesund waren. Kein innerlich auffressender Neid war es, den ich fühlte, eher dieser gesunde Neid, der mich dann dankbar sein ließ, dass Andreas überhaupt dabei sein konnte, denn es hätte ja auch anders sein können. Gegen Ende des Gottesdienstes versuchte ich, mich zusammenzureißen.
    Andreas war fit, fühlte sich als Mittelpunkt des Tages ungemein wohl und schien jede Minute zu genießen. Wann immer wir später an der Kirche vorbeifuhren, kam von ihm: „Mama, da bin ich konfirmiert worden!“ und danach die komplette Liste seiner eingeladenen Gäste. Keine eigenen Freunde standen darauf, das war ja unmöglich. Am Ende des Tages aber stand für mich eines fest: Andreas war unwiderruflich auf dem Weg, erwachsen zu werden.

ZEIT, ZU GEHEN
    Damals, während des Plätzchenbackens, dachte ich mir, dass Andreas, wenn er zwischen 20 und 25 Jahren wäre, ausziehen würde.
    Aber nun wurde Andreas bereits mit 16 immer unzufriedener, egal was wir unternahmen, oder ob er mit seinem Einzelfallhelfer unterwegs war. Er hatte einen unglaublichen Freiheitsdrang entwickelt. Er wollte einfach losgehen, mit dem Bus in die Stadt fahren, einkaufen gehen, zu Freunden fahren, und er wünschte sich welche, die zu ihm zu Besuch kommen. Wie alle Pubertierenden hatte er so seine Eigenheiten entwickelt. Für seine Schwestern, die nun 14 und sechs Jahre alt waren, wurde es schwierig, mit ihren Freunden ungestört in ihren Zimmern zu spielen. Für mich wurde es nervig, Andreas immer und immer wieder in meine Nähe zu holen. Für Andreas war es ärgerlich, ausgeschlossen zu sein und das machte ihn ungewohnt aggressiv.
    Lautstark und aggressiv seine Wünsche durchsetzen zu wollen, das kannte ich bei Andreas nicht. So lieb wie er war, so unausgeglichen konnte er nun sein. Natürlich ist die Pubertät irgendwann einmal ausgestanden, aber das eigentliche Problem, dass Andreas’ Leben in unserer normalen Welt alles andere als fair und sozial war, würde bleiben.
    Dieter und ich sprachen darüber, ob es nicht zu früh sei, für Andreas eine Einrichtung zu suchen, in der er ein Leben würde führen können, das ihm gerecht werden und ihm einen fairen Konkurrenzkampf bieten würde. Wir diskutierten eine ganze Zeit darüber, sprachen immer und immer wieder die gleichen Argumente durch, vertagten aber auch eine Entscheidung immer wieder. So richtig wollte das keiner von uns, obwohl wir wussten, dass dieser Weg der richtige sein würde. Doch es ging nicht um uns, es ging um Andreas. Für ihn mussten wir eine Entscheidung treffen, die sein Leben, aber auch unser Leben beeinflussen würde. Wir diskutierten das ohne unsere Töchter, dafür waren wir noch nicht bereit.
    Als hätte Claudia geahnt, dass unsere Gespräche sich um Andreas drehten, sagte sie eines Tages ganz plötzlich aus heiterem Himmel: „Mama, für Andreas ist es hier bei uns unfair.“
    Ich schaute meine Tochter fragend an und antwortete: „Wenn du so eine Behauptung in den Raum stellst, dann musst du mir das auch begründen können.“
    „Klar Mama, das mache ich gerne.“
    Ihre Stimme klang wie immer strotzend vor Selbstbewusstsein.
    „Schau, ich habe meine Freunde, verabrede mich mit ihnen oder fahre auch einfach nur mal in die Stadt. Bei Christine ist es nicht anders, nur, dass sie geholt oder gebracht wird. Wir haben nach der Schule unsere Freunde und unser eigenes Leben. Was hat Andreas? Er hat zwar uns, aber das ist nicht genug. Andreas hat keine Freunde und kein für ihn sozial passendes Leben hier bei uns.“
    Manchmal,

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