Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
wenn Kinder ihren Eltern derart ernste Betrachtungen darlegen, holt man Luft, um Ihre Ausführungen zu relativieren. Ich habe keine Luft geholt, habe ihr einfach nur zugehört, ohne den geringsten Ansatz, sie unterbrechen zu wollen. Eine kleine Pause entstand. Abwartend schaute sie mich an, auf meine Reaktion wartend.
„Wir, Papa und ich, haben uns das auch schon überlegt und wollen damit beginnen, eine Einrichtung für Andreas zu suchen.“
„Das ist gut.“
Beide Mädchen haben durch die Tatsache, dass sie mit einem behinderten Bruder aufgewachsen sind, eine völlig andere Sicht auf die vielen kleinen und großen Dinge des Lebens bekommen; sie haben immer schon andere Prioritäten gesetzt als andere Kinder ihrer Altersstufe. In Hinblick auf ihre soziale Reife waren sie ihren Freunden und Klassenkameraden weit überlegen. Ich hätte zu keiner Zeit etwas daran ändern können, auch wenn ich mir gewünscht hätte, ihnen die eine oder andere Erfahrung ersparen zu können. Diese klare Sicht meiner Tochter, ihre deutlichen Worte, ihre realistische Einschätzung von Andreas’ Situation, spiegelten ihre Reife wider.
Sie ließ eine nachdenkliche Mutter in der Küche zurück. Worum ging es mir wirklich? Darum, dass ich im Augenblick eine nie zuvor gekannte Müdigkeit verspürte, die es mir schwer machte, meiner Aufgabe gegenüber Andreas gerecht zu werden? Darum, mein eigenes Leben so leben zu können, wie ich das eigentlich wollte? Darum, frei zu sein von der riesigen Verantwortung? Darum, der vielen Anfälle überdrüssig zu sein? Um meinen eigenen Egoismus? War ich eine Rabenmutter, wenn ich den Schritt wirklich gehen würde? Es war ja nicht so, dass ich wirklich bereit war, meinen Sohn gehen zu lassen. Nächtelang lag ich wach, konnte nicht schlafen, suchte nach Wegen, für ihn ein soziales Leben aufbauen zu können, dachte nach, während ich einfach nur noch weinte. Musste ich das wirklich tun? War es wirklich so, dass wir Andreas nicht das geben konnten, was er zu einem zufriedenen Leben brauchte? Andreas war immer fröhlich, hatte immer den Schalk im Nacken, auch wenn es ihm mal nicht so gut ging. Aber fröhlich und glücklich, da lagen Welten dazwischen. Glücklich war er anscheinend wirklich nicht mehr, sah er doch, welche Freiheiten seine Schwestern genossen, was sie alles durften und was ihm versagt war. Es ging bei dieser Entscheidung gar nicht um mich, es ging um Andreas.
Diese Gedanken begleiteten mich, während wir uns die verschiedensten Einrichtungen anschauten. An allen fand ich etwas auszusetzen. Aber wir hatten ohnehin keine Eile, inzwischen war es Herbst geworden. Herbst 1996.
Wir fingen an, mit unseren Freunden und Bekannten über unser Vorhaben zu reden, Andreas in eine Einrichtung zu geben. Wir stießen überwiegend auf Zustimmung. Bei einzelnen Müttern aber auch auf Ablehnung und das Wort „Rabenmutter“ erschien in Denkblasen über ihren Köpfen. Solche Gedanken hatte ich selbst, dazu brauchte ich sie sicher nicht. Ein Gefühl von Aufgeben machte sich nach solchen Gesprächen in mir breit. Aber ich schaffte es, diese Gedanken abzuschütteln, sagte mir immer wieder, dass es hier nicht um mich, sondern um Andreas ging.
Mütter, die ebenfalls behinderte Kinder hatten, waren die größten Gegner unseres Plans. Vielleicht wurden sie dadurch daran erinnert, dass sie selbst irgendwann einmal vor dieser Entscheidung stehen würden? Schwang da vielleicht ein wenig Neid mit, weil wir schon einen Schritt weiter waren als sie selbst? Weil wir das tun wollten, wozu ihnen der Mut fehlte?
Wir lebten damals in Berlin Kladow und uns waren dort schon immer behinderte Menschen im Straßenbild aufgefallen, die mit Betreuern unterwegs waren. Sie machten auf mich einen recht zufriedenen Eindruck und so hörte ich mich um. Ich erfuhr, dass es hier eine Einrichtung gab, das „Heilpädagogische Zentrum“, das später „Vitanas Heilpädagogisches Centrum“ heißen sollte.
Mir gefiel, was ich dort sah: Die Einrichtung war in einzelne Wohngruppen unterteilt, in denen bis zu acht Bewohner lebten. Sie machten sich das Frühstück und das Abendbrot selbst, bekamen das Mittagessen aus der Gemeinschaftsküche, wuschen ihre Sachen selbst, gingen am Morgen zur Arbeit und kamen am Nachmittag nach Hause. Wir wurden von Betreuern und Bewohnern freundlich empfangen. Uns wurde versichert, dass die Einrichtung mit Physiotherapeuten, Psychotherapeuten und Ärzten zusammenarbeiten würde, sodass die medizinische
Weitere Kostenlose Bücher