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Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Titel: Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gitta Becker
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geschoben. Da saß er also, mit seinem Helm, grinsend, alle Tiere bewundernd, während mir der Schweiß in Sturzfluten über den Rücken lief bei dem Versuch, ihn durch den nicht gerade ebenen Zoo zu schieben. Als ich mit ihm in den Streichelzoobereich ging, kannte seine Freude über die Ziegen, die ihm das Futter aus der Hand aßen, keine Grenzen und er übertönte mit weitem Abstand die Kinderscharen, die ebenfalls die Tiere streichelten und fütterten. Ein kleiner, blonder Junge stand auf einmal vor ihm, musterte den Helm und den Rollstuhl und fragte dann: „Bist du krank?“ Mein lieber Bruder musterte ihn seinerseits, als wäre der Junge nicht gerade der Hellste und meinte dann nur kopfschüttelnd: „Nein, ich bin doch behindert!“
    So viel dazu. Ich bin behindert und nicht krank. Ich bin behindert und du blond. Na und? Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Für mich ist das kein Problem. Für dich? Ich bin behindert und lebe mein Leben trotzdem. Ich bin behindert und habe verdammt noch mal das Recht auf ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben. Ich bin behindert und will trotzdem Freunde haben, eine Freundin finden, verliebt sein. Und jetzt?
    Ich wäre die Letzte, die nicht zugeben würde, dass ich oft genervt von Andreas war. Ich hatte in meiner Jugend auch ganz klar andere Vorstellungen und Interessen, als an einem Samstagnachmittag Fußballbilder zu kleben. Ich bin der Meinung, dieses Recht gehabt zu haben und dass es richtig war, wegzugehen, Freunde zu treffen, meine ersten Erfahrungen mit Jungs zu machen. Trotzdem habe ich das Gluckenhafte meiner Mutter angenommen. Eine damalige Babysitterin erzählt heute noch gerne die Geschichte, dass ich als kleiner Stöpsel vor ihr stand und ihr in einem ernsten Gespräch unter vier Augen klarmachte, dass Andreas Narrenfreiheit habe, da er behindert sei und nicht immer für sein Handeln zur Verantwortung gezogen werden könne. Wenn sie ihn also bestrafen wolle, müsse sie erst einmal an mir vorbei. Wie ich eingangs bereits erwähnte, hatte ich mich verändert. Ich war mit einem Schlag reifer geworden. Auch spätere Babysitter hatten wahrscheinlich nicht immer ihr Vergnügen mit mir. Es war mir egal, ob sie mit mir spielten oder nicht, aber sobald sie sich in meinen Augen meinem Bruder gegenüber falsch verhalten hatten, war Schluss mit lustig. Ich habe mich immer vor Andreas gestellt und hätte ihn vor allem und jedem verteidigt.
    Mir war auch immer klar, dass mein zukünftiger Freund sowie alle meine Freunde ihn bedingungslos würden akzeptieren müssen. Eine falsche Bewegung, eine angewiderte Miene und das Thema wäre für mich gegessen gewesen. Heute weiß ich, dass ich damals zu hart ins Gericht gegangen bin. Doch bereue ich es? Nein, ich stehe dazu. Alle meine Freundinnen haben sich von meinem Bruder bei der ersten Begegnung küssen lassen und mein Freund Florian, meine große Liebe, hat mir sogar die Show gestohlen. Andreas hat ihn von Anfang an geliebt. Seinen Flo. Ende der Diskussion. Wenn Flo dabei war, war ich abgeschrieben. Hätte ich einen Mann an meiner Seite akzeptiert, der nicht mit einer Selbstverständlichkeit mit meinem Bruder umgegangen wäre? Nein. Da hätte es für mich keinen Grund zur Diskussion gegeben. Ich behaupte, dass er sogar eine Zeit lang in eine meiner besten Freundinnen verliebt war. Wie oft habe ich ihm die genaue Adresse von Henny sagen müssen? Wann er sie wiedersehen würde, welches Auto sie fuhr und so weiter und so fort.
    Schattenseiten gab es bei uns jedoch oft genug. In einer Zeit, in der seine Medikamenteneinstellung nicht stimmte, war er so aggressiv, dass er die Plexiglasscheibe meiner Zimmertür einschlug. Ein größeres Stück davon fiel auf meinen Arm und hinterließ dort eine Narbe. Wir waren alleine zu Hause und ich hatte panische Angst, aus meinem Zimmer zu gehen. Er war so sehr in Rage, dass ich meine Nachbarin und beste Freundin anrief, die ihn immer beruhigen konnte. Wenn er sie sah, strahlte er und alle Wut war vergessen. Trotzdem blieb die Angst. Die Angst, dass er wieder böse werden würde, wenn sie weg wäre und ich ihn dieses Mal gar nicht würde beruhigen können. Während solcher Wutanfälle hat er mich unzählige Male geschlagen und ich habe nicht ein Mal zurückgeschlagen. Denn was für die Babysitter galt, galt auch für mich. Er konnte nichts für sein Verhalten und ich würde ihn dafür niemals zur Rechenschaft ziehen. Ich wusste, dass ich tief in seinem Innern immer seine große Schwester war und er

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