Gai-Jin
davon abzweigenden Gassen lange Reihen sauberer, kleiner Häuser auf kurzen Stelzen, viele von ihnen Speiselokale oder kleine Bars, alle aus Holz mit Veranden und Shoji-Wänden aus Ölpapier. Überall Farben, Blütenzweige, Lärm und Lachen, Laternen, Kerzen und Öllampen. »Feuer ist hier äußerst gefährlich, Phillip. Das ganze Viertel ist im ersten Jahr abgebrannt, nach einer Woche war es jedoch wieder voll in Betrieb.«
Jedes Haus trug ein anderes Zeichen. Manche hatten offene Türen und Shoji-Schiebefenster. Darin saßen junge Mädchen, je nach Ansehen des Hauses in kostbare oder eher bescheidene Kimonos gekleidet. Andere Mädchen promenierten, einige mit bunten Sonnenschirmen, manche von Zofen begleitet, doch alle schenkten den glotzenden Männern wenig oder gar keine Beachtung. Darunter mischten sich Straßenhändler aller Art und Schwärme von Dienerinnen, die die Vorzüge ihres Hauses in markigem, rauhem Pidgin anpriesen, und das Ganze wurde vom fröhlichen Scherzen potentieller Kunden überlagert, die zumeist altbekannt waren und ihre bevorzugten Häuser hatten. Bis auf die Wachen, Diener, Träger und Masseure waren nirgends Japaner zu sehen.
»Vergessen Sie nie, daß die Yoshiwaras ein Ort der Freude sind, der fleischlichen Genüsse, des Essens und Trinkens, und daß es in Japan so etwas wie Sünde – ob Erbsünde oder andere – nicht gibt.« Lachend bahnte ihnen André einen Weg durch die Menge, die wohlgeordnet wirkte bis auf ein paar streitsüchtige Betrunkene, die von riesigen, geübten Rausschmeißern schnell und gutmütig voneinander getrennt, auf Hocker gesetzt und von den stets aufmerksamen Dienerinnen mit noch mehr Saké verwöhnt wurden.
»Betrunkene sind hier willkommen, Phillip, weil sie den Überblick über ihr Geld verlieren. Aber versuchen Sie sich niemals mit einem Rausschmeißer anzulegen; die sind phantastisch im unbewaffneten Kampf. Verglichen mit unserer Drunk Town geht’s hier so diszipliniert zu wie auf der Regent’s Promenade in Brighton.«
Plötzlich packte eine stürmische Dienerin Tyrers Arm und wollte ihn in einen Hauseingang ziehen. »Saké heya? Jig-jig viel gut, Mass’er…«
»Iyé, domo, iyé…«, fuhr Tyrer auf – nein, danke, nein –, und eilte hinter André her. »Großer Gott, ich mußte mich richtig mit Gewalt losreißen.«
»Das ist ihr Job.« Von der Hauptstraße bog André in einen Durchgang zwischen zwei Häusern ein, eilte einen anderen entlang, blieb vor einer unscheinbaren Tür in einem Zaun stehen, über der ein verschmutztes Schild hing, und klopfte. Tyrer erkannte die Schriftzeichen, die André ihm zuvor aufgeschrieben hatte: Haus ›Zu den drei Karpfen‹. Ein kleines Gitter wurde geöffnet. Augen spähten heraus. Die Tür ging auf, und Tyrer betrat ein Wunderland.
Ein winziger Garten, Öllaternen und Kerzenlicht. Glänzende graue Trittsteine im grünen Moos, Blumenrabatten, viele kleine Ahorne – blutrotes Laub vor noch mehr Grün –, blaßorangefarbenes Licht, das aus den halb verdeckten Shoji fiel. Eine kleine Brücke über einem Miniaturbach, gleich daneben ein Wasserfall. Auf der Veranda kniete, wunderschön gekleidet und frisiert, eine Frau mittleren Alters, die Mama-san. »Bonsoir, M’sieur Furansu-san«, sagte sie, legte beide Hände auf den Verandaboden und verneigte sich tief.
André erwiderte die Verbeugung. »Raiko-san, konbanwa. Igaga desu ka?« Guten Abend, wie geht es Ihnen? »Watashi wa kombinu, wa, Tyrer-san.« Dies ist mein Freund, Mr. Tyrer.
»Ah so desu ka? Taira-san? Taira kuni omoto desu furigato desu.« Sie verneigte sich feierlich, Tyrer verneigte sich ungeschickt; dann winkte sie den beiden Herren, ihr zu folgen.
»Sie sagt, Taira ist ein berühmter, alter japanischer Name. Sie haben Glück, Phillip, die meisten von uns müssen sich mit Spitznamen begnügen. Ich laufe unter Furansu-san – das beste, was sie aus ›Franzose‹ zu machen wußten.«
Um die peinlich sauberen und sehr teuren Tatami nicht zu beschmutzen, zogen sie ihre Schuhe aus und nahmen ungeschickt im Schneidersitz auf dem Boden Platz. André machte ihn auf die tokonoma, die Nische für eine besondere, dort aufgehängte Schriftrolle, sowie auf ein täglich wechselndes Blumenarrangement aufmerksam und wies auf die Qualität der Shoji und Hölzer hin.
Saké wurde hereingebracht. Die Dienerin war jung, etwa zehn, nicht hübsch, aber geschickt und schweigsam. Raiko schenkte ein, zuerst André, dann Tyrer, dann sich selbst. Sie trank einen Schluck,
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