Gai-Jin
Kalligraphie, die Schönheit ihrer Gedichte und ihre Klugheit in Kunst und Politik berühmt.
»Ich bewundere deine Art zu schreiben und das Gedicht, es ist ausgezeichnet. Ich bewundere die komplexe Vielfalt deiner Gedanken, vor allem, daß du kein ›wenn‹ hinzugesetzt und das Wort ›regt‹ gewählt hast, wo ein weniger hochentwickelter Verstand ›bewegt‹ oder das auffallendere ›zuckt‹ benutzt hätte, das sexuelle Anklänge besitzt. Die Plazierung des letzten Wortes jedoch, ›beklommen‹ – ach, Yoshi-chan, wie geschickt, dieses Wort an den Schluß zu stellen, ein unterschwelliges Wort, perfekt. Dein Werk ist hervorragend und kann auf unterschiedliche Art interpretiert werden. Es ist wundervoll!«
»Und was glaubst du, was ich damit sagen will?«
Ihre Augen blitzten auf. »Erzähl mir zuerst, ob du’s behalten willst – offen behalten, heimlich behalten oder zerstören.«
»Was ist denn meine Absicht?« fragte er und freute sich an ihr.
»Wenn du es offen behalten willst, oder wenn du es so tun willst, als wolltest du’s verstecken, oder wenn du so tun willst, als sei es geheim, beabsichtigst du, daß es von anderen gelesen wird, die irgendwie unsere Feinde informieren, wie du es willst.«
»Und was werden sie denken?«
»Alle, bis auf die klügsten, werden vermuten, daß deine Entschlußkraft abnimmt, daß deine Ängste dich allmählich überwältigen.«
»Und die anderen?«
Koikos Blick verlor nichts von seinem belustigten Blitzen, aber er sah, wie ein weiteres Funkeln hinzukam. »Von deinen Hauptgegnern«, begann sie behutsam, »würde Shōgun Nobusada vermuten, daß du wie er der Meinung bist, daß du nicht stark genug bist, um eine echte Bedrohung zu sein; erleichtert würde er annehmen, daß es, je länger er wartet, um so leichter wird, dich zu eliminieren. Anjo würde dich um deine Meisterschaft als Dichter und Kalligraph beneiden und höhnisch über das ›beklommen‹ lachen, weil er es für unwürdig und schlecht gewählt hält, aber das Gedicht würde ihn nicht loslassen, würde ihn beunruhigen, vor allem, wenn es ihm als geheimes Dokument hinterbracht wird. Er würde nicht ruhen, bis er achtundachtzig verborgene Bedeutungen herausgefunden hat, die alle seine unerbittliche Gegnerschaft dir gegenüber stärken würden.«
Ihre Offenheit bestach ihn. »Und wenn ich es heimlich behalten würde?«
Sie lachte. »Wenn du es geheimhalten wolltest, hättest du’s sofort verbrannt und mir nicht gezeigt. Schade, so viel Schönheit zu zerstören, sehr schade, Yoshi-chan, aber unabdingbar für einen Mann in deiner Position.«
»Warum? Es ist doch nur ein Gedicht.«
»Ich halte es für etwas Besonderes. Es ist zu gut. Eine solche Kunst kommt von tief innen. Sie enthüllt. Enthüllung ist der Sinn der Lyrik.«
»Weiter.«
Ihre Augen schienen die Farbe zu wechseln, als sie sich fragte, wie weit sie gehen durfte, und ständig seine intellektuellen Grenzen testete, um ihren Herrn zu unterhalten und zu erregen, falls das in seinem Interesse lag. Er bemerkte die Veränderung, erkannte aber nicht den Grund.
»Zum Beispiel«, sagte sie leichthin, »könnte es den falschen Augen verraten, daß deine innersten Gedanken in Wirklichkeit sagen: ›Die Macht meines Vorfahren und Namensvetters Shōgun Toranaga Yoshi liegt in meiner Reichweite und schreit danach, gebraucht zu werden.‹«
Er beobachtete sie, konnte aber nichts in ihren Augen lesen. Eeee, dachte er, und all seine Sinne schrien Alarm. Bin ich so leicht zu durchschauen? Vielleicht ist diese Dame zu scharfsichtig, um am Leben zu bleiben. »Und die Prinzessin Yazu? Was würde die denken?«
»Sie ist die Klügste von allen, Yoshi-chan. Aber das weißt du ja. Sie würde die Bedeutung sofort erkennen – falls du eine bestimmte Bedeutung im Sinn hast.« Wieder ließen ihre Augen nichts erkennen.
»Und wenn es ein Geschenk für dich wäre?«
»Dann würde diese unwürdige Person mit Freude über einen solchen Schatz erfüllt sein – aber in einem Dilemma stecken, Yoshi-chan.«
»Einem Dilemma?«
»Es ist zu kostbar, um verschenkt oder empfangen zu werden.«
Yoshi löste den Blick von ihr und musterte sein Werk aufmerksam. Es war alles, was er sich wünschte, nie wieder würde er so etwas hervorbringen können. Dann betrachtete er sie ebenso durchdringend. Seine Finger nahmen das Papier und reichten es ihr, ließen die Falle zuschnappen.
Ehrfürchtig nahm sie das Papier mit beiden Händen entgegen und verneigte sich tief. Studierte es
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