Gaisburger Schlachthof
aufgekrempelt.
»Übrigens«, sagte er, »ich war das Wochenende bei mei nen Eltern in Balingen.«
»Und?«, fragte ich und setzte mich baumstammsteif an meinen Tisch.
Richard kehrte erst einmal in die Küche zurück, goss die Spaghetti ab und füllte zwei Teller mit Pasta und Soße. »Mei ne Mutter«, sagte er dann, den einen tomatig duftenden Teller vor meiner Nase und den anderen gegenüber platzierend, »hielt mich erst für einen der Honoratioren aus dem Ort und lavierte, weil ihr mein Name nicht einfallen wollte, obgleich ich ihr bekannt vorkam. Mein Vater – er ist jetzt fast achtzig – fragte dann unverblümt, wer ich denn sei.«
Er musterte den Tisch, auf der Suche nach dem, was noch fehlte.
›»So ein Zufall!‹, sagte mein Vater, als ich meinen Namen nannte. ›Sie heißen ja wie wir. Sind wir verwandt?‹ Meine Mutter flüsterte erschreckt ›Rosanna‹ und erklärte meinem Vater, ich sei sein Sohn. Daraufhin behauptete er, er habe keinen Sohn, nur eine Tochter, und die lebe in Argentinien, übrigens als Verlorene und in Sünden, über die er lieber nichts wissen wolle. Mein Vater ist ein frommer Mann. Aber er hatte schon immer einen durch nichts zu rechtfertigenden Respekt vor Staatsbeamten. Deshalb brachte er mir immerhin so etwas wie Neugierde entgegen und ließ sich meinen Wer degang erzählen. Heute früh hatte er es dann begriffen, denke ich. Allerdings siezte er mich beharrlich. Meine Mutter strich mir in einem heimlichen Moment übers Haar.«
Richard setzte sich an den Tisch und nahm die Gabel.
»Sehr gut«, sagte ich, »ich meine, das Essen.« Ich hatte Hunger wie ein Tier. »Aber was hat dich bewogen, deine Familienangelegenheiten ausgerechnet an diesem Wochenen de in Ordnung zu bringen?«
Richard stand wieder auf und holte sich ein Glas Wasser. »Meine Mutter hat immer von meiner Hochzeit in Weiß geträumt. Als Lohn für das düstere Eheleben und all die Sorgen, die ich ihr gemacht habe. Bis vorgestern hatte ich Angst, sie könnte mich wieder in ein Kleidchen stecken wollen, wenn ich zurückkäme. Aber du hast mir … irgendwie … wie soll ich das ausdrücken …« Der Blick, den er mir über den Tisch herüberschickte, machte aus den Spaghetti ein Galadiner auf Damasttischdecke in einem Fünf-Sterne-Restaurant mit leiser Musik im Hintergrund und Lichtsternen in den Weinkelchen. »Du hast mir das Gefühl vermittelt, Lisa, dass es … nun ja … dass es …« Er schüttelte den Kopf. »Mir ist plötzlich das Drama meiner Kindheit abhanden gekommen. Ich kann es nicht anders erklären. Behauptet ihr nicht immer, wir Männer könnten nicht über Gefühle reden?« Er grinste, nahm die Gabel wieder auf und nudelte Spaghetti.
Die Friedenskirche schlug elf. Richard befahl mir, sitzen zu bleiben, obgleich ich nicht vorgehabt hatte aufzustehen, und räumte das Geschirr in die Küche. Ich hörte ihn abwaschen. So was konnten Junggesellen immerhin. Schließlich knipste er das Licht in der Küche aus, krempelte seine Hemdsärmel hinunter und zog sein Jackett vom Stuhl.
»Oder soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein. Es geht schon.«
»Aber wenn es morgen nicht besser ist, dann gehst du zum Arzt?«
Falls ich nicht über Nacht auseinanderbrach.
Richard schwankte nur eine Sekunde, dann nahm er sich das Recht, das jeder Mann hatte, den das Mitleid anflog: Er beugte sich herab und küsste mich, bevor er ging.
29
Der Morgen danach ist immer der schlimmste. Mit kalten Muskeln kann man dem Schmerz nichts entgegensetzen. Mein Schlaf hatte Ohnmachtsanfällen geglichen und mich zu einem vorgeschichtlichen Baumstamm versteinert. Nimm dich zusammen!, ermahnte ich mich und fiel der Länge nach aus dem Bett.
So fand mich Oma Scheible und rief ihren Hausarzt. Dr. Eisele war lockig, lehnte meine Selbstdiagnose ab, wollte nichts von Prellung hören und bohrte seine kleinen Finger in die tiefsten Tiefen meiner Weichteile, um Hüftbrüche zu ertasten. Schließlich räumte er doch ein, dass es sich um eine Prellung an der Wirbelsäule handeln könnte, die man von außen nicht unbedingt sehen musste. »Das muss man röntgen.«
Das lehnte ich ab und forderte stattdessen eine Spritze gegen die Schmerzen.
Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dass das Nervensystem von Tieren zwar für akuten Schmerz, aber nicht für Dauerschmerz ausgelegt war. Acetylsalicylsäure wirkte, wie jedes andere Schmerzmittel, auf das langsame Schmerzsystem, ähnlich wie die körpereigenen Opiate, die nach einem akuten
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