Gaisburger Schlachthof
einfühlsam und verständnisvoll, so zartfühlend.« Sie kicherte venusfeucht. »Er kann echt zuhören. Aber … tja …« Sie hielt sich resigniert ans vierte Viertele. »Vermutlich ist er schwul. Männer, mit denen du über alles reden kannst, sind meistens schwul.«
»Aber hatte Fritz nicht was mit Anette?«
»Wie kommst du auf Anette?« Vicky wirkte alarmiert. »Woher kennst du die überhaupt. Du warst doch noch nie vorher im Schlachthof.«
Ich beugte mich vor und wisperte über unsere Gläser hin weg: »Ich habe gehört, dass sie gestorben ist, plötzlich und unerwartet.«
»Das ist ja auch in der Zeitung gestanden«, sagte Vicky.
Vielleicht sollte ich ab und zu mal mein eigenes Blatt lesen.
»Herzversagen«, fuhr Vicky fort. »Aber davon, dass sie was mit Fritz hatte, hat da nichts gestanden. Woher weißt du das?« Sie fragte ziemlich eifersüchtig.
Ich versteckte mich hinter Feuer und Zigarettenrauch.
»Fritz steht nämlich nicht auf dürre Frauen. Und Anette hat es echt übertrieben. Magersüchtig, würde ich sagen. Wahrscheinlich war der Herzmuskel zum Schluss auch angegriffen. Die Aerobicstunde hat sie jedenfalls kaum noch durchgehalten.«
»Auf wen steht Fritz denn nun, auf muskulöse Männer oder auf dicke Frauen?«
Vicky zuckte mit den Schultern, hob sich den Weinbecher vors Gesicht und leckte die Neige aus dem Glas. Entweder sie warf Nebelkerzen oder sie wusste es tatsächlich nicht, und folglich hatte sie mit ihm auch nichts gehabt.
»Auf muskulöse Frauen steht er jedenfalls nicht«, hakte ich nach. »Sonst würde er Katrin ja nicht betrügen.«
»Hm«, machte Vicky wortkarg und pflanzte das Glas wieder auf den Bierdeckel. »Und du … lebst du mit einer Frau zusammen? So richtig, in einer eheähnlichen Gemeinschaft?«
»Nein.«
Vickys Blick wurde verträumt und schräg. »Das stelle ich mir echt toll vor: mit einer Frau leben! Keine offenen Schubladen und Schranktüren mehr.« Sie fokussierte mich. »Kennst du den? Frau wirft Mann aus dem Fenster. In welcher Zeitung steht das?«
»Bildzeitung?«
»Nein: Schöner Wohnen .« Sie lachte hemmungslos.
Ich lachte nett mit. Der Abend endete damit, dass ich mich gegen halb elf hinters Steuer des Familien-Audis setzte und Vicky, angefüllt mit vier Vierteles und erleichtert um zehn Gramm Traumata, in die Abelsbergstraße, keine zehn Minu ten zu Fuß vom Schlachthof entfernt, chauffierte.
4
Oma Scheible schloss gerade von innen die Haustür ab, als ich von der Straße hineinwollte.
»Ah, das Fräulein Nerz. Sooo, kommet Sie vom Schport? Aber übertreibet Sie’s nett! I hen in dr Zeitung gläse, dass a jongs Mädle gschtorbe isch, annem Herzinfarkt.«
Oma Scheible besaß eine schöne Sammlung von Schauergeschichten über Krankheit, Siechtum und Tod. Zwischen ihren bläulichen Lippen blitzten feuchte Mäusezähnchen, und ihre Augen schillerten wie fette Aalsuppe. »Übrigens, i hen noch Kässpätzle ibrig. Wenn Sie wellet … Sie hen doch sicher wieder nix gesse!«
»Doch, einen Gaisburger Marsch«, beruhigte ich sie.
Ich hatte nicht verhindern können, dass die Alte mit ihrem unerschöpflichen Vorrat an Neugierde und Schlüsseln auch in meine Wohnung eingedrungen war. Zunächst hatte sie noch behauptet, es habe brenzlig gerochen, inzwischen hielt sie meine beiden Zimmer und die Küche in Ordnung, ohne Ausreden zu benutzen.
Ich knarrte die Holztreppen in den dritten Stock hoch und füllte die Kaffeemaschine. In der Neckarstraße herrschte Nacht, wenn sie es auch schwer hatte, zwischen der Lichtinsel der Haltestelle Stöckach und dem von Strahlern erleuchteten Bunker der Staatsanwaltschaft meinem Fenster genau gegenüber zur Dunkelheit zu finden.
Die Neckarstraße war eine der Problemzonen Stuttgarts. Hier kam die U-Bahn hoch und nahm mit ihren Hochbahnsteigen und ihrem Schienendamm den Fahrbahnen die Luft. Arbeitsamt, Deutsche Verlagsanstalt und Landespolizeidirektion I klotzten damals noch gegenüber alten Wohnzeilen mit ihren Klinkerfassaden, in deren Untergeschossen sich Parfümerien, Autofilialen, Pfennigmärkte und Schilderdruckereien anpriesen, die inzwischen Selbstbedienungsbäckern, Handyläden und einem Biomarkt gewichen waren.
Der fünfstöckige gelbliche Ziegelbau, den ich seit einigen Jahren bewohnte, war Altbau in seiner unromantischen Form. Die Dielen spreißelten, der mit Gas beheizte zentrale Kachelofen blies Staub unter die Decken. Den Stuck hatte man wegrenoviert. Als ich einzog, hatte sich die Badewanne noch in
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