Galgenberg: Thriller (German Edition)
Der Wind selbst hatte sich in der vergangenen Nacht gelegt. Allerdings nur vorübergehend; am Tafelberg bildeten sich schon wieder Wolken, Vorboten des nächsten Sturms.
Auf der Ebenezer Road hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Stadtstreicher, Schichtarbeiter und ein paar Journalisten lungerten auf dem Gehweg herum. Sie beobachteten den weißen Van der Gerichtsmedizin und hofften auf eine Leiche. Als Riedwaan sein Motorrad durch das Tor im Zaun schob, knurrte ihn ein alter Köter an.
In der Mitte des Abrissgeländes parkte ein Bulldozer. Er stand gegenüber einer Reihe von Gebäuden, die teilweise schon abgerissen worden waren. Seitlich davon lag in einem großen Haufen der halbe Boden eines ehemaligen Lagerhauses.
Riedwaan ging zu dem Polizisten, der als Erster am Tatort gewesen war.
»Morgen, Dreyer«, sagte Riedwaan.
»Faizal«, begrüßte Dreyer ihn knapp.
»Was haben wir?«, fragte Riedwaan.
»Eine tote Obdachlose.« Dreyer deutete in den Schuppen. »Doc Mouton war schon drinnen. Er wollte, dass Sie herkommen.«
Eine Polizistin kam mit einem Tablett voller Kaffeebecher auf sie zu. Charnay Cloete: Der Name war auf ihre Brusttasche gestickt. Zwanzig Jahre alt, im siebten Monat schwanger und völlig übermüdet, so wie es aussah.
»Was haben wir hier?«, fragte Riedwaan sie.
»Eine tote Obdachlose, würde ich sagen, Captain.«
»Nein, Cloete«, widersprach Riedwaan. »Auf dem Tablett.«
»Kaffee.«
»Haben Sie einen übrig?«, fragte Riedwaan.
»Sie können meinen haben.«
»Sie werden es noch weit bringen bei der Polizei, Sergeant Cloete. Aber ich nehme den von Dreyer. Sie sehen aus, als könnten Sie Ihren brauchen.« Riedwaan nahm einen Becher vom Tablett und trat in den Schuppen.
Der Gestank war ekelerregend.
»Faizal.« Piet Mouton, der Gerichtsmediziner, trug wie immer einen schwarzen Anzug, eine Seidenkrawatte und ein frisch gestärktes weißes Hemd, das sich alle Mühe gab, seinen ausladenden Bauch zu bedecken.
»Was haben Sie für mich, Doc?«, fragte Riedwaan.
»Eine Obdachlose. Um die fünfzig«, sagte Mouton. »Möchten Sie nachsehen, ob sie irgendwelche Papiere bei sich trägt?«
Mouton reichte Riedwaan ein Paar Handschuhe.
Der Körper der Toten war klein wie der eines Kindes. Der Tod hatte die auf der Straße verbrachten Jahre ausgelöscht, hatte die Haut über den Knochen gestrafft und die Überreste jener Schönheit, mit der sie einst geboren wurde, wieder zutage gebracht. Verdreckte, alte Jacke. Männerhemd. Hose. Riedwaan durchsuchte die Taschen und entfaltete die zerknitterte Quittung, die er darin fand. Sie war zwei Wochen alt.
»Eva Afrika. Das Assisi-Tierkrankenhaus, Sea Point«, las er vor. »Wissen Sie, was das ist?«
»Eine Wohltätigkeitseinrichtung für obdachlose Tiere«, sagte Cloete.
»Hier steht, dass sie dort war, um einen Hund namens Jennie behandeln zu lassen. Wahrscheinlich war das die alte Hündin, die mich vorn am Zaun angeknurrt hat.«
»Scheint ein kluger Hund zu sein«, murmelte Dreyer.
»Keine äußerlichen Wunden«, sagte Riedwaan.
»Sieht so aus, als hätte sie sich totgesoffen. Ich würde auf eine natürliche Todesursache tippen. Aber wir müssen sie obduzieren.« Mouton drehte sich um. »Sie können sie mitnehmen.«
Zwei Angestellte der Gerichtsmedizin hoben die Tote hoch. So wie sie die Leiche auf die Bahre fallen ließen, schien sie nicht schwerer als ein Bündel Wolle zu sein. Das Band mit dem Anhänger glitt zu Boden.
Riedwaan hob ihn auf und hielt die Metallscheibe gegen das Licht. Buchstaben waren darauf eingraviert und eine Zahl, aber beides war nicht mehr richtig zu erkennen oder zu lesen. Er steckte sie in das Hemd der Toten zurück.
»Sieht aus wie einer dieser alten Sklavenanhänger«, sagte er.
»Ich möchte, dass der mit ihren anderen Habseligkeiten registriert wird«, sagte Mouton zu einem der gerichtsmedizinischen Angestellten.
»Okay, Doc.«
Riedwaan trat zur Seite, damit die beiden mit ihrer Last durch die Tür kamen. Ohne weitere Umstände schoben sie die Bahre in den Lieferwagen. Eine kleine Kiesfontäne, dann waren sie unterwegs in Richtung Gerichtsmedizin, anfangs verfolgt von der alten Hündin.
»Und dafür haben Sie mich aus dem Bett geholt, Doc?«, fragte Riedwaan.
»Nein.« Mouton deutete in eine Ecke. »Hierfür.«
Ein Knochen. An einem Ende zersplittert.
»Den habe ich dort in der Ecke gefunden«, sagte Mouton.
»Ein Femur?« Riedwaan hatte in seiner Laufbahn genug Oberschenkelknochen gesehen.
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