Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Ballingers, sondern Margarets wegen. Er musste an Hesters Vater denken, der sich das Leben genommen hatte, als ihn ein Finanzskandal ruiniert hatte. Darin hatte er den einzigen ehrenhaften Ausweg gesehen, obwohl ihn keinerlei persönliche Schuld traf, außer dass er einem Mann vertraut hatte, dessen Ehrbegriff unter jedem Niveau war.
Sie nahmen einen Hansom und fuhren schweigend zum Gericht, wo Sullivan sein Büro hatte. In der heißen Luft mischten sich die penetranten Gerüche von Pferdemist, Leder und abgestandenem Schweiß.
Monks Gedanken waren beherrscht von der Angst um Scuff und von quälenden Schreckensvisionen.Wie hatte der Junge sich nur fangen lassen können? Wie verängstigt musste er gewesen sein, als er Phillips erkannte und schlagartig wusste, was ihm bevorstand? Waren ihm schon Brandwunden zugefügt worden, blutete er? Wie würde Phillips anfangen – langsam, genüsslich oder gleich mit den schlimmsten möglichen Schmerzen? Obwohl Monk verzweifelt versuchte, die Bilder aus seinem Bewusstsein zu verbannen, brach ihm der Schweiß aus allen Poren und rann ihm kalt über die Haut.
Und was mochte Rathbone durch den Kopf gehen? Sein Gesicht war kreidebleich, sein Blick starr geradeaus gerichtet. Würde er Ballinger entschuldigen? Was würde er Margaret sagen? Wie würde er sich entscheiden?
Sie erreichten Sullivans Räumlichkeiten, ohne ein Wort gewechselt zu haben. Zwischen ihnen bestand freilich die stillschweigende Übereinkunft, dass Rathbone das Thema ansprechen würde.
Erwartungsgemäß wurden sie aufgefordert zu warten, bis Seine Ehren, Richter Sullivan, irgendwann bereit sein würde, sie zu empfangen. Rathbone erklärte entschieden, dass es sich um eine dringende polizeiliche Untersuchung handelte, die eine Angelegenheit von höchster persönlicher Bedeutung für Sullivan betraf, und der Sekretär es noch bereuen würde, wenn er noch länger Anstalten machte, sich ihnen in den Weg zu stellen.
Binnen einer halben Stunde standen sie in Sullivans Büro und sahen sich einem Mann gegenüber, der zugleich wütend und ängstlich wirkte. Jeder Muskel seines massiven Körpers war angespannt, er zitterte am ganzen Leib, und in der Hitze der durch die hohen Fenster hereinscheinenden Sonne perlten glänzende Schweißtropfen über seine Stirn.
»Was wollen Sie?« Er ignorierte Monk und richtete seine Augen auf Rathbone, als könne nur dieser ihn über die Einzelheiten aufklären.
Er wurde nicht enttäuscht. Rathbone kam sofort zur Sache.
»Wir möchten, dass Sie uns heute Abend zu Jericho Phillips’ Boot bringen, und zwar heimlich. Wenn Sie das nicht tun, werden Menschen sterben. Darum werde ich nicht mit mir handeln lassen und weder Zweideutigkeiten noch Leugnen dulden.«
»Ich weiß doch überhaupt nicht, wo das Boot ist«, protestierte Sullivan, noch bevor Rathbone zu Ende gesprochen hatte. »Wenn die Polizei an Bord gehen möchte, ist das ihre Sache. Sie hat sicher ihre eigenen Informanten, die sie fragen kann.«
»Es gibt natürlich alle möglichen Leute, mit denen wir sprechen könnten«, entgegnete Rathbone eisig. »Wobei die verschiedensten Arten von Informationen ausgetauscht werden können. Ich bin sicher, dass Sie das mitsamt allen direkten und verborgenen Implikationen verstanden haben. Wir müssen diese Sache heute Abend erledigen, ohne dass Phillips eine Warnung erhält, die es ihm ermöglichen würde, das Kind, das er verschleppt hat, wegzuschaffen.«
»Das kann ich nicht tun!«, jammerte Sullivan, dessen Gesicht inzwischen schweißnass war.
»Für einen Mann, der im Angesicht großer Risiken aufblüht, scheint bei Ihnen ein einzigartiger Mangel an Mut vorzuliegen«, bemerkte Rathbone voller Abscheu. »Haben Sie mir nicht erzählt, wie sehr Sie die Gefahr, ertappt zu werden, lieben? Nun, Sie stehen vor dem aufregendsten Abenteuer Ihres Lebens.«
Monk trat vor, nicht aus Mitleid für Sullivan, der dem Ersticken nahe schien, sondern weil er füchtete, der Richter würde jeden Nutzen für sie verlieren, wenn er einen Schlaganfall erlitt. »Sie können sich entfernen, sobald Sie uns hingebracht haben«, sagte er mit knarrender Stimme. »Sofern wir den Jungen lebend antreffen. Wenn nicht, glauben Sie mir, werde ich Sie vor ganz London und – was noch wichtiger ist – vor der Gerichtsbarkeit, die Sie gegenwärtig so sehr bewundert, bloßstellen. Dort mögen Sie von mir aus Freunde haben, aber die werden Ihnen auch nicht mehr helfen können und das gar nicht erst versuchen, falls sie
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