Galgenfrist für einen Mörder: Roman
dann allerdings jeweils dieselbe Erklärung geben.«
Ein Schatten huschte über Claudines Gesicht. »Ich glaube nicht, dass er mir vergeben wird, egal, was ich jetzt noch tue. Au ßerdem bin ich mir noch nicht so sicher, wie es bei mir weitergehen soll. Darüber muss ich noch gründlich nachdenken.Wenn … wenn er mich auf die Straße setzt, könnte ich dann hier leben?« Sie blickte ängstlich und sehr verlegen zu Hester auf.
»Aber natürlich!«, rief Hester spontan. Fast hätte sie hinzugefügt, dass Rathbone ihr sicher seinen rechtlichen Beistand anbieten würde, doch gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass ein solches Versprechen wohl etwas übereilt wäre.Wallace Burroughs würde sich vermutlich ohnehin wieder beruhigen und dann etwas mehr Vernunft zeigen. Andererseits war sein übliches »vernünftiges Verhalten« nicht gerade dazu angetan, Claudine auf welche Art auch immer glücklich zu machen. »Ich werde ihm schreiben, dass es einen Unfall gegeben hat und Sie geholfen haben.« Ihre Stimme hatte einen sanften Ton. Vielleicht wäre es Claudine lieber gewesen, sie wüsste nicht so viel über ihr Leben. »Von uns wird er jedenfalls nie etwas anderes erfahren. Sie müssen dann nur noch darauf achten, dass Sie sich nicht in Widersprüche verwickeln. Aber Sie kennen sich ja mit der Krankenpflege gut genug aus, um ihm jede Erklärung zu geben, die er hören will.«
»Er wird mich nichts fragen«, erwiderte Claudine. »Für solche Dinge hat er sich noch nie interessiert. Trotzdem, vielen Dank.«
Hester schaute kurz bei Squeaky vorbei, um ihm mitzuteilen, dass sie nach Wapping zur Polizeiwache fuhr, wo sie Monk anzutreffen hoffte, dann verließ sie die Klinik. Zu ihrer Erleichterung lief ihr Margaret nicht über den Weg. Vor einer Begegnung mit ihr hätte es Hester gegraut.
In der Farringdon Road winkte sie sich einen Hansom heran, und eine halbe Stunde später war sie in Wapping. Dort musste sie noch eine Stunde warten, bis Monk von einem Einsatz auf dem Fluss zurückkehrte. Doch wenn es nötig gewesen wäre, hätte sie noch länger ausgeharrt.
Als sie schließlich in seinem Büro waren und er die Tür geschlossen hatte, baute er sich in der Mitte auf und blickte sie gespannt an.
In knappen Worten schilderte sie ihm, unter Auslassung irrelevanter Details, Claudines Abenteuer und verschwieg ihm nicht, dass Claudine sich absolut sicher war, in einem der Männer mit den furchtbaren Fotografien Arthur Ballinger erkannt zu haben.
Monk schwieg. Hester beobachtete, wie in seinem Gesicht Ungläubigkeit und langsames Begreifen miteinander rangen.
»Sie muss sich täuschen«, meinte er. »Sie war müde, verängstigt und aufgeregt, nachdem sie diese Bilder gesehen hatte …«
»Nein, das war sie nicht, William«, widersprach Hester ruhig. »Und sie kennt Ballinger.«
»Woher soll sie ihn kennen? Er ist doch sicher nicht ihr Anwalt, oder?«
»Das nicht, aber sie bewegen sich in den gleichen Kreisen. Claudine mag in der Portpool Lane die Küchen schrubben und für die Kranken kochen, aber in ihrem eigenen Haus ist sie eine Dame. Wahrscheinlich kennt sie mehr oder weniger sämtliche Mitglieder der besseren Gesellschaft. Sie ist vor ihm geflüchtet, weil er sie so genau musterte, dass sie Angst bekam, auch er hätte sie erkannt.«
Monk wehrte sich nicht länger gegen die Einsicht. Der Kummer in seinen Augen verriet, dass er sich mit den Fakten abgefunden hatte.
»Wir müssen gewappnet sein«, schloss Hester in sanfterem Ton. »Ich glaube nicht, dass Oliver es weiß, aber vielleicht vermutet er es. Das könnte sogar der Grund sein, warum er den Phillips-Fall überhaupt angenommen hat. Allerdings würde ich jede Wette wagen, dass Margaret völlig ahnungslos ist. Wie auch ihre Mutter.« Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. »Nicht auszudenken, was für ein Schock es für die beiden sein wird, wenn sie gezwungen sind, es zu erfahren.«
Monk ließ die Atemluft langsam entweichen. »Mein Gott! Was für ein Chaos!«
Ein scharfes Klopfen unterbrach sie. Bevor Monk reagieren konnte, flog die Tür auf, und Orme stand auf der Schwelle, das Gesicht aschfahl, die Augen hohl.
Hester reagierte als Erste. »Was ist?« Jäh befiel sie eine Angst, die ihr die Kehle zuschnürte.
Monk trat auf Orme zu. Dieser überreichte ihm wortlos ein einfach zusammengefaltetes Stück Papier.
Monk las es. Seine Hände begannen zu zittern, aus seinem Gesicht wich alle Farbe.
»Was ist?«, fragte Hester noch dringlicher. Ihre Stimme klang
Weitere Kostenlose Bücher