Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
so vor, als sauste ich Hals über Kopf auf einen Knotenpunkt in meinem Leben zu, an dem sämtliche dunkle Fäden aus meiner Vergangenheit aufeinandertrafen und mich in ihr Gespinst einwickelten. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn der Schaffner, der jetzt vor mir auftauchte, rot glühende Kohlen anstelle von Augen besessen und als nächste Station das Fegefeuer angekündigt hätte.
Hugh Donovan hatte den Krieg überlebt und mich von einem Münztelefon im Besucherbereich des Barlinnie-Gefängnisses in Glasgow aus angerufen. »Bar-L« oder das »Große Herrenhaus« nannten wir es immer. Wegen meiner eigenen Probleme war der Aufruhr nördlich der Grenze samt nachfolgendem Gerichtsprozess und Urteilsverkündung unbemerkt an mir vorbeigegangen.
Hugh wollte mich sehen, um mich von seiner Unschuld zu überzeugen. Aber warum gerade mich? Wieso rief er ausgerechnet den Mann an, den er hintergangen hatte, den Mann, der immer noch einen Groll gegen ihn hegte, weil er ihm etwas geraubt hatte? Warum zum Teufel ging er davon aus, dass es mich kümmerte, ob er schuldig oder unschuldig hinter Gittern saß? Genau in dem Moment, in dem ich wieder etwas Ordnung in mein Leben gebracht hatte, wirbelte er alles erneut auf, sodass ich wieder aus dem Takt geraten würde. Und nach allem, was ich gehört hatte, und der Recherche, die ich später am Tag anstellte, saß er eindeutig zu Recht im Gefängnis. Zwischen seiner Verhaftung im November 1945 und der Verurteilung samt Verkündung des Strafmaßes waren lediglich vier Monate vergangen.
Der Richter des Schwurgerichts in Glasgow hatte ihn zum Tode verurteilt. Sehr bald, in kaum mehr als vier Wochen, würde man Hugh Donovan am Frühlingsmorgen des 30. April aufknüpfen.
Ein Glück, dann bin ich ihn los.
3
Ich musste eingedöst sein. Das monotone Rattern des Zugs hatte mich schließlich doch noch in einen tiefen Schlaf mit verrückten Träumen entführt. Auf einem Landungsboot steuerte ich – platsch platsch – durch die Wellen auf einen laut dröhnenden, mächtigen Wasserfall zu. Jetzt brachte mich der Wechsel im Rhythmus zurück in die Wirklichkeit. Der Zug hatte so stark abgebremst, dass die Räder mit Schrittgeschwindigkeit über die Schienen glitten.
Als ich die Gardine im Abteil zurückzog, sah ich den Morgen über einer bräunlichen Stadtszenerie herangrauen. Vor mir zeichnete sich durch die Stützbalken einer Brücke ein träger Fluss ab. Ich wusste genau, wo wir uns befanden. Bald darauf huschten die Pfeiler des Bahnhofs vor dem Fenster vorbei.
Während ich mich von der oberen Pritsche auf den Boden herunterhangelte, fuhr der Zug knirschend und keuchend im Glasgower Bahnhof St. Enoch ein und kam dort zum Stehen.
Hastig seifte ich mir das Gesicht ein und fuhr mir mit dem Rasierer über das Kinn. Danach zog ich mich an, setzte den Hut auf, griff nach meinem kleinen Koffer und ließ meinen Reisegefährten mit dem Versuch allein, sich ächzend aus seinem Rausch zu kämpfen. Das war nicht hämisch gemeint. Noch letzte Woche wäre es mir vielleicht genauso ergangen. Während ich an den gewaltigen Rädern des Royal Scott vorbeischlenderte, hätte ich den dampfenden Flanken des schnaubenden Monsters am liebsten einen freundschaftlichen Klaps verpasst; dankbar dafür, dass der Zug uns sicher und pünktlich hierhergebracht hatte. Ringsum drang der vertraute Heimatdialekt laut an meine Ohren – ein Gefühl, als regnete es nach langer Trockenzeit.
Zwei junge Männer latschten lässig an mir vorbei. »Hab ’n Brummschädel!«
»Is klar, wars letzte Nacht ja auch stratzpralle.«
»Wars ja selbs nich mehr taufrisch.«
Ein Schaffner in Uniform versetzte einem Lehrling eine Ohrfeige. »Lech ma ’n Zahn zu, du kleenet Miststück.«
Zwei alte Frauen mit Einkaufsnetzen und bloßen, mit Krampfadern übersäten Beinen: »Na denn tschüss, sach ich. Wenn dat mein Herzken gewesen wär, hädd ich ihr ma kräftich eine geschallert.«
»Hasse die Riesenoschis von der Ollen grad gesehn, Dave?«
Ich brauchte eine Minute oder zwei, um mich darauf einzustellen, als würde ich mit einem primitiven Kurzwellenempfänger nach langer Zeit wieder den vertrauten Heimatfunk entdecken. Doch dann klang es wie Musik in meinen Ohren. Wohl kaum wie Brahms, eher wie Buddy Rich – hart, scharf und rhythmisch. Trotz meines Auftrags hob sich meine Laune. Ich war wieder unter meinesgleichen, und das freute mich mehr, als ich gedacht hatte. Nun bedauerte ich sehr, dass ich diese Rückkehr so lange vor mir
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