Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
Schrei durch das Grabesdunkel der Landschaft schneidet. Jedes Mal warte ich auf einen antwortenden Ruf, doch er bleibt stets aus. Zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren fahre ich nach Hause, und der Gedanke an das, was mich dort erwartet, erfüllt mich mit einer explosiven Mischung aus Zorn und Furcht. Ich ziehe noch mal an meiner Zigarette, beobachte, wie die Spitze aufglüht, wieder erlischt und der Rauch wirbelnd davontreibt.
Vier sorglose Tage früher gammelte ich in meiner winzigen Mansarde in South London herum. Zur Abwechslung machte ich mal eine gute Phase durch. Fast eine Woche lang hatte ich mehr geschlafen und weniger getrunken. Vielleicht hing beides miteinander zusammen. Meine frisch geputzten Schuhe – Drill der Armee – standen an der Tür, bereit für den Spurt zur Fleet Street. Die Frühlingssonne strahlte durch das schräge Oberlicht herein. Ich hockte am Tisch und trank meinen zweiten Becher Tee, während ich in der Times vom Vortag las. Daneben lag die Zeitung, für die ich arbeite, der London Bugle .
Man muss seinen Gegner kennen, pflegte mein alter Einpeitscher bei der Armee zu sagen. Hinzu kommt mein Faible für die Anzeigen auf der Titelseite der Times. Auf ihre Weise vermitteln sie ein genauso deutliches Bild von Britannien wie die Nachrichten und Berichte im Innenteil. Sie erzählen Geschichten eines Landes in Geldnöten, in dem Gentlemen ihre feinen Lederhandschuhe zum Verkauf anbieten und ehemalige Offiziere der Royal Air Force oder Träger des Distinguished Flying Cross sich als hoch qualifizierte Privatsekretäre anpreisen. Es ist eine Nation, in der gut ausgebildete Mechaniker Arbeit als Chauffeure suchen und Kriegshelden nach Gartenarbeiten oder handwerklichen Jobs Ausschau halten. Die Früchte des Sieges besaßen für einige Menschen einen bitteren Nachgeschmack.
Ich schlürfte meinen Tee und war dankbar für den Job, den ich gefunden hatte. Seit dem letzten Monat beschäftigte mich der Bugle als freien Mitarbeiter und gab mir regelmäßig Aufträge für Artikel. Darüber hinaus bestand Aussicht auf eine Festanstellung. Ich verdiente genug, um mir Essen, Zigaretten und Scotch leisten zu können – wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Zumindest hielt es mich davon ab, einfach nur den kläglichen Rest meines Abschiedssolds zu versaufen.
Vor zwei Wochen hatte ich meinen schlaffen Körper zu Les’ Boxschule in der Old Kent Road geschleppt und bekam – mal abgesehen vom Muskelkater – langsam wieder ein Gefühl dafür, wie es war, wenn es einem in körperlicher Hinsicht gut ging. Das harte Aufbautraining für den D-Day, die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie, lag schließlich schon eine ganze Weile zurück.
Nach der leicht depressiven Stimmung der letzten Woche hoffte ich jetzt auf ein Licht am Ende des Tunnels. Der Sonnenschein auf dem Gesicht würde mir guttun. Ich war sogar so optimistisch drauf, dass ich bei Lena Horne mitsummte und unmelodisch eine Oberstimme zu Artie Shaws Solo improvisierte, die mir das BBC Light Programme gerade auf Langwelle servierte. Sogar die erste Zigarette des Tages schmeckte mir und diente nicht nur der Befriedigung meiner Nikotinsucht.
Da klingelte das gemeinschaftlich genutzte Telefon im Hausflur.
Ich schielte auf meine Armbanduhr. Gerade erst Viertel nach sieben durch. Irgendjemand begann den Tag offensichtlich verdammt früh. Mir war klar, dass Mrs. Jackson nicht an den Apparat gehen würde, es sei denn, sie hatte ihr Hörgerät aufgedreht. Warum ihre Töchter überhaupt das Telefon hatten installieren lassen, war mir ohnehin schleierhaft. Bei dem lauten Organ der Alten schien das völlig überflüssig zu sein. Die anderen drei Mietparteien erhielten nur selten Anrufe. Trotzdem hatte keiner von uns etwas dagegen, sich an den monatlichen Gebühren für den Apparat zu beteiligen.
Immer noch in Pantoffeln und Unterhemd eilte ich zur Tür. Ich hätte zwar gern noch ein Viertelstündchen Zeitung gelesen und das Kreuzworträtsel gelöst, aber vielleicht war es ein Anruf vom Bugle. Also sauste ich die drei Treppenfluchten hinunter und griff nach dem glänzenden schwarzen Hörer.
»Ja, hallo? Brodie am Apparat«, keuchte ich.
»Mr. Douglas Brodie?« Eine schicke Stimme. Eine professionelle Stimme. Die Stimme einer Telefonistin.
Langsam kam ich wieder zu Atem. »Ja, so heiße ich. Doug Brodie.«
»Bleiben Sie am Apparat. Ich habe ein Gespräch für Sie. Der Anrufer müsste dann jetzt bitte das Geld
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