Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
später ertrunken sind.«
Sie nickte und zog die Decke fester um sich. Es war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, ihr auch die andere Geschichte zu erzählen. Andererseits hatte sie in den letzten Tagen bestimmt noch viel schlimmere Dinge verkraften müssen.
»Da ist noch etwas, Sam. Es betrifft deine Eltern. Als ich eben die Wellen erwähnt habe, da ...«
»Ich weiß darüber Bescheid. Gerrit konnte der Versuchung nicht widerstehen, es mir zu erzählen. Er hat meine Eltern mitten auf dem See über Bord geworfen und einfach abgewartet, bis ihnen die Kraft zum Schwimmen ausging. Menschen zu ertränken – darauf waren die Slatterys wohl spezialisiert. Wie kann man nur so etwas tun?« Als ihr erneut Tränen in die Augen schossen, wünschte ich mir, ich hätte Gerrit Slattery – nein, beide Slatterys – noch länger leiden lassen.
»Dann ist da noch die Sache mit Allardyce ...«, begann ich.
»Dafür wird er hängen, so wahr mir Gott helfe! Er stand einfach nur da, in seinem Hotelzimmer, als Slattery hinter mir auftauchte und mir ein stinkendes Taschentuch auf Mund und Nase presste. Mehr weiß ich nicht ...« Sie hämmerte immer wieder auf die Matratze ein.
»Sam, Sam! Er ist tot. Nachdem Slattery dich außer Gefecht gesetzt hatte, brachte er Allardyce in dessen Hotelzimmer um.«
Da ihr Gehirn kaum noch nachkam, diese Fülle an Informationen zu verarbeiten, schüttelte sie nur den Kopf und riss die Augen weit auf. Als sie erneut zu zittern begann, drückte ich sie fest an mich und streichelte ihre Hände und Arme, bis sie ruhiger wurde. Danach brachte ich sie dazu, sich wieder hinzulegen, deckte sie mit einer zusätzlichen Decke von der anderen Bettstelle zu und nahm ihre Hand in meine. Eine Weile blieb sie bewegungslos liegen und starrte zum Schott hinauf. Dann schloss sie die Augen und schlief auf der Stelle ein.
Wir konnten alles gründlich durchsprechen, wenn sie wieder aufwachte. Falls das überhaupt nötig war. Ich sah zu, wie sich ihr Gesicht entspannte und nach und nach wieder die vertrauten, zarten Züge annahm. Dabei fragte ich mich, wie ich sie jemals für reizlos hatte halten können. Oder wieso Schönheit etwas mit dem Alter zu tun haben sollte. Als ich ihr eine vorwitzige blonde Locke aus der Stirn strich, fuhr sie kurz zusammen, beruhigte sich jedoch schnell und war sofort wieder sehr weit weg von mir.
Ich ließ die Lorne eine Zeit lang einfach unbeeinflusst über das Wasser gleiten, genoss dabei die Geschwindigkeit und bekam nach und nach ein Gefühl für die Jacht. Irgendwann griff ich zur Ruderpinne und schwang sie herum, richtete die Segel neu aus und ging auf nordöstlichen Kurs, um zur Küste von Ayrshire zurückzukehren. Ich konnte bereits sehen, wie sich Arran links vor mir als dunkler Brocken vor dem Meereshorizont abzeichnete. Während die Jacht die Wellen teilte, schaukelte sie sanft.
Das klatschende Geräusch des Bugs, der durch die Dünung schnitt, besänftigte mein aufgewühltes Herz. Ich spürte, wie der in mir angestaute Zorn wie Körner in einer Sanduhr verrann. Zum ersten Mal seit Wochen musste ich nichts und niemanden mehr verfolgen und wurde auch selbst nicht mehr verfolgt. Fühlte sich so Hoffnung an? Jedenfalls würde ich mich eine Weile mit diesem Gefühl zufriedengeben.
Als ich näher am Wind segelte, kräuselten sich die Segel und ich spürte, wie sich das Schiff unter meinen Füßen aufrichtete, als wolle es gleich wie ein angreifendes Tier nach vorne schnellen. Die Rückfahrt würde aufgrund des Gegenwinds deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen. Ich überlegte, ob es mir wohl gelingen würde, das Hauptsegel zu hissen. Zwar verfügte ich nicht über eine Kompasspeilung für Kildonan, konnte mich aber am Blinkfeuer des Leuchtturms von Pladda orientieren.
Mir schoss ein verlockender Gedanke durch den Kopf. Vor langer Zeit hatte ich mitten im Englischunterricht fasziniert zugehört, wie unser Lehrer den Rhythmus eines Gedichts von Alfred Tennyson intonierte und dabei dessen Bildsprache lautmalerisch heraufbeschwor:
... mein Ziel wird sein
zu segeln ferner als das Abendrot
und Bad der Westgestirne, bis ich sterb’.
Ich stand an der Ruderpinne und lächelte. Schließlich wendete ich die Lorne, ließ sie einen großen Bogen nach Westen vollziehen und wusste: Wenn ich sie noch ein paar Grad weiter herumlenkte, würden wir am Mull of Kintyre vorbeisegeln, auf den weiten Atlantik hinaus. Dann würde die nächste Station unserer Reise Amerika sein. Ich spürte, wie
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