Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
hergeschoben hatte. Heute Abend würde ich den Nahverkehrszug nach Kilmarnock nehmen und meine Mutter mit meinem Besuch überraschen. Aber an diesem Vormittag stand mir zuerst das Treffen mit einem Mörder bevor.
Ich deponierte meinen Koffer bei der Gepäckaufbewahrung und trat durch die großen, schwarz angelaufenen viktorianischen Gewölbe von St. Enoch in die belebende Luft von Glasgow hinaus. Hier war es gut zehn Grad kühler als im sonnenverwöhnten englischen Südosten, und über mir breitete sich der weite Himmel aus, den ich so gar nicht mehr in Erinnerung gehabt hatte. Die Luft roch scharf nach den Kohlefeuern in den Häusern und Fabriken, doch die ständige Brise, die vom Clyde herüberwehte, hielt den Smog fern. Vor dem Krieg hatte es Tage gegeben, an denen man eine sich nähernde Straßenbahn nur aufgrund des Bimmelns im trüben Dunst bemerkte.
Ich blieb stehen und schaute mich um. Es war so, als hätte der Krieg gar nicht stattgefunden. Keine Anzeichen von Bombenschäden und ein Gewimmel und eine Geschäftigkeit, die London völlig abgingen. St. Enoch fungierte nicht nur als Hauptbahnhof, sondern auch als Endhaltestelle für Straßenbahnen und Oberleitungsbusse, also hätte mich das eigentlich nicht wundern sollen. Doch ich kam mir vor wie beim Betreten einer Bühne, auf der Maschinen ein bizarres Ballett aufführten.
Der Vorplatz ächzte unter der Last der zahlreichen Transportmittel, deren Gewirr aus Kabeln und Leitungen wie betrunken schwankte. Ich hätte sogar die Möglichkeit gehabt, Glasgow mit der U-Bahn unterirdisch zu umkreisen: erst südlich unter dem Clyde hindurch, dann Richtung Westen zum Stadtteil Govan, anschließend zurück nach Partick am nördlichen Flussufer und schließlich gen Osten zu meinem jetzigen Standort. Eine weitere Möglichkeit wäre gewesen, von hier aus zu Fuß zur Polizeiwache Ost in der Tobago Street zu laufen – seinerzeit mein erster Schritt auf der Karriereleiter. Aber dieses Vergnügen würde ich mir für später aufheben.
Ein Straßenbahnkontrolleur eilte mir zu Hilfe und rief mir geduldig das System der Farbcodes für die einzelnen Linien ins Gedächtnis zurück. Nachdem er die Richtungsangaben mir zuliebe mehrmals wiederholt hatte, verließ ich die Stadt entlang der Straße nach Edinburgh in östlicher Richtung und näherte mich nach einem Schwenk gen Norden einer stillen Vorstadt, hinter der offenes Feld lag. Die Fahrt kam mir unglaublich lang vor. Zweimal musste ich die Straßenbahnlinie wechseln und danach noch mit einem Bus weiterfahren. An der Endstation stieg ich aus und spazierte die Lee Avenue entlang.
Ich konnte das Ungetüm bereits jenseits der wenigen Häuser aufragen sehen. Schließlich erhaschte ich einen freien Blick auf die Reihe der massiven Klötze, die am Ende dieser gottverlassenen Straße wie Teile einer stillgelegten Fabrik herumstanden. Ein Vergleich, der dem Barlinnie Prison durchaus gerecht wurde: Wer hier landete, erfuhr eine Weiterbearbeitung. Die Häftlinge gingen als aufsässige oder verängstigte Männer hinein und verließen den Knast entweder voller angestauter Wut oder innerlich gebrochen, in jedem Fall aber blasser und dünner als bei ihrer Ankunft. Und manche von ihnen, unter anderem Hugh Donovan, würden niemals mehr herauskommen, sondern in ungeweihtem Boden im Hof neben dem Todestrakt vergraben werden.
Der Knast warf einen langen und finsteren Schatten. Während ich mich auf das riesige Stahltor in der Mitte des sechsstöckigen grauen Komplexes zubewegte, verspürte ich ein beunruhigendes Schuldgefühl. Zwar hatte ich nichts verbrochen, doch die bedrückende Atmosphäre führte dazu, dass ich die Sünden meiner Vergangenheit Revue passieren ließ und überlegte, ob sich irgendwelche strafwürdigen Verbrechen darunter befunden hatten. Eine Sünde vielleicht oder auch zwei, wer wusste das schon so genau?
Die ganze Zeit über fühlte ich mich beobachtet. Als ich die mannshohe Pforte erreichte, die in das riesige Tor eingelassen war, öffnete sich ein vergittertes Fenster.
»Besucher?«, fragte ein Mann mit Mütze.
»Ja, ich möchte einen Strafgefangenen besuchen. Habe einen Termin ausgemacht.«
»Name?«
»Meiner oder der des Häftlings?«
»Beide.« Der Mann musterte mich aus zusammengekniffenen Augen.
»Ich heiße Brodie und möchte zu Hugh Donovan.«
»Donovan also? Dann beeilen Sie sich wohl besser«, erwiderte der Mann mit hämischem Grinsen. Er knallte das Fenster zu, öffnete die Tür einen Spaltbreit und
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