Galgeninsel
der Telefonnummern passte und auch die Kürzel im Notizbuch wiesen selbst bei sehr kreativer Auslegung nicht auf die russische Truppe in der Ladestraße hin.
Die Konten kamen ihm in den Sinn. Kandras Konten wiesen zwar Guthaben aus, teils in fünfstelliger Höhe. Daneben wussten sie von zwei Aktiendepots und natürlich war Kandras Eigentümer von Immobilien. Aber – Kandras hatte innerhalb des letzten Jahres drei Immobilien verkauft. Das war für Immobilienhändler nichts Ungewöhnliches. Doch bei diesen Verkäufen handelte es sich um eigene Objekte und das Geld aus den Verkäufen war direkt auf ein bankeigenes Konto von Faynbach & Partner gegangen. Schielin war kein Finanzfahnder, aber irgendwie lag der Eindruck nahe, dass Kandras unter finanziellem Druck stand.
Der Fragenkatalog für Kehrenbroich nahm langsam Gestalt an, und Schielin würde Funk hinzuziehen, denn der war firm auf diesem Gebiet. Dann schwenkten seine Gedanken wieder der Witwe zu. Ein Testament war nicht aufgefunden worden und weder das Nachlassgericht noch ein Notar hatten sich bisher gemeldet und fremde Ansprüche oder dergleichen geltend gemacht. Gesetzliche Erbfolge also. Was Anna Kandras wohl empfinden mochte, als Erbin von Kandras Nachlass? Ab und an unterbrach er seine Gedankengänge und rief die Privatnummer von Hoibner an. Ein ums andere Mal sprang der Anrufbeantworter an.
Was war das für ein Täter? Sein Vorgehen deutete in gewisser Weise auf ein organisiertes Vorgehen hin. Wer immer das getan hatte, wusste was er wollte: Kandras sollte sterben. Es war auch gar nicht so leicht, ein Auto verschwinden zu lassen. Eine harte Nuss, denn mit dem was sie bisher wussten, war etwas Wesentliches nicht zu konstruieren: ein nachvollziehbares Motiv. Anna Kandras war wohlsituiert und hatte es nicht nötig, aus Gründen einer zu erwartenden Erbschaft zu morden. Und Schielin schätzte sie so ein, dass sie Kandras ganz anders getötet hätte. Oh, ja. Das wäre ein Mord geworden. Ganz große Oper. Aber er konnte sich angesichts ihrer Selbstkontrolle nicht mal eine Affekthandlung vorstellen. Dem widersprach ja auch die erkennbar vorhandene Tatorganisation.
Schielin landete in Oberreitnau und wählte den Weg Richtung Rothkreuz. Es war zum Verzweifeln. Was hatten sie nur übersehen? Wo war der Funke zu finden, der die Ermittlungsflamme so richtig zum Lodern bringen konnte? Er schlug noch einen Haken und kutschierte als Verkehrshindernis über Hergatz zurück nach Lindau. Autofahren entspannte ihn manchmal. Diejenigen, die ihm folgen mussten, eher nicht.
Puppenstube
Kurz entschlossen, und weil er keine andere Idee hatte, fuhr er die Adresse von Hoibner an. Was er vorfand war durchaus beeindruckend. Hoibner wohnte in einem protzigen Einfamilienhaus. Zu viele Erker, Gauben und Gitterfenster. Schielin war dieser Puppenstubenstil zuwider. Ihn störten auch die Schleifenbänder am Eingang, wie die infantilen Häkelfiguren, die hinter den Fenstern hingen. Eine misslungene Melange aus Protzromantik und Jodelharmonie. Diese überbordende Sehnsucht, das sichtbare Verlangen nach etwas Heimeligem, nach einem romantischen Zuhause vermittelte gleichsam etwas Verzweifeltes.
Schielin klingelte und vernahm drinnen ein weiches Dingdong. Er richtete noch einen schnellen Blick auf den schwarzen Mercedes, der in der Garageneinfahrt stand, dann öffnete sich die Tür. Ein Mann mit blonden glatten Haaren stand im Eingang und sah Schielin unfreundlich und schweigend an.
»Bin ich hier richtig bei Hoibner?«
Der Blonde deutete stumm und mit abweisender Miene auf den mit Tonbuchstaben im Mauerwerk verklebten Familiennamen. Er fixierte Schielin mit einem unangenehm lauernden Blick. Die ungehörige Geste war ein Akt gezielter Arroganz. Es fehlte ihr allerdings die dazu gehörende Lockerheit, um sich entfalten zu können. Der Blonde war nicht locker. Eine eigenartige Anspannung hemmte ihn. Schielin zog seinen Dienstausweis. Dabei sagte er »Mordkommission«, obwohl das so gar nicht stimmte. Es klang aber gut, war auch den Dümmsten aus Filmen bekannt und machte Eindruck. Der Blonde blieb unentschlossen in der Tür stehen. Schielin überrumpelte ihn indem er an ihm vorbei hineinging, während er sagte: »Darf ich reinkommen.« Eine offen stehende Innentür brachte ihn weiter in den Wohnraum. Dort wartete eine Frau, die ein Kind auf dem Arm trug. Ihre Augen blickten ängstlich zu Schielin. Sie sprach kein Wort. Das tat ihr Mann in Schielins Rücken mit einem zornig hervor
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