Galgeninsel
ist.«
Lydia wog mit kritischem Blick den Kopf. »Von Mittwoch bis übers Wochenende hatten wir hier traumhaftes Wetter und der See war voll mit Booten. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er unentdeckt geblieben wäre.«
»Na ja. Es sei denn die Leiche befand sich unter Wasser, wo es schön kühl ist. Da reichen schon ein, zwei Meter zu der Zeit jetzt. So wie sich das für mich darstellt, hat man ihn auf einem Boot niedergemacht. Und was spricht dagegen, dass er … an dem Boot … hing.«
»Wie … hing?«
»Die Fesseln. Ich habe mir die Fesseln noch mal angesehen«, Schielin malte mit den Händen in der Luft. »Du hast zwei Enden. Das eine war fabrikmäßig verschweißt. In unserem Fall weist das zweite Ende jedoch einen Schnitt auf.
Kann doch sein, dass die Leiche … irgendwie geparkt wurde, oder so.«
Lydia blies laut und ungläubig Luft durch ihre Lippen und wiederholte: »Oder so.«
Er sprach ruhig weiter. »Du hast das schöne Wetter schon erwähnt. In der Stadt war alles voller Leute, der See war voll mit Booten und überall am Ufer ist bis in die Nacht gegrillt und gefeiert worden. Wo bitte hätte man jemanden wie Kandras niederschlagen, fesseln und wegschaffen sollen, ohne dass da irgendjemand etwas mitbekommen hätte. Das ist doch völlig ausgeschlossen.«
Lydia hörte ihm aufmerksam zu und nickte, als er die kurze Pause machte.
»Aus diesem Grund denke ich, dass Kandras an einem Ort zu Tode gekommen ist, an welchem der Täter relativ ungestört war und es einen schnellen, direkten Zugang zum See gibt. Laut Befund gibt es ja keinerlei Schleif- oder Quetschspuren. Also ich denke, dass der Mord auf einem Boot stattgefunden hat, irgendwann zwischen Dienstag Abend und Mittwoch Nacht.«
Lydia überlegte. »Ich rufe noch mal in München an und kläre ab, wie hoch die Toleranzen bezüglich des Todeszeitpunkts sein können.«
Schielin sah sie ernst an. »Gut. Und noch was. Ich kannte Kandras. Von der Schule her. Er war zwar ein paar Jahre jünger, aber auf dem Schulhof, da ging der ganz schön zur Sache. Obwohl wir älter waren und auch kräftiger … mit dem … wollte niemand was zu tun haben. Er ging keiner Auseinandersetzung aus dem Weg, hatte damals schon keinen Freund, gehörte nicht mal eine Clique an. Ein Einzelgänger eben. Er wohnte draußen im Zech, als das noch ein richtig verrufener Stadtteil war. Der Vater war ein arbeitsloser Säufer, die Mutter ein bleiches, dürres Wesen. Sie hat beim Metzeler gearbeitet. Kandras war das einzige Kind. Ich habe sie ab und an mal gesehen, beim Kinderfest, im Bierzelt. Der Vater schon mittags hagelvoll. Schlimm. Schon aus dem Grund hat man mit dem Kandras nichts zu tun haben wollen.«
Schielin richtete sich auf. Bisher hatte er ruhig erzählt, doch jetzt lag in seiner Stimme Stärke. »Und dieser Kandras, der nicht mal einen Schulabschluss hinbekommen hat, der ein kulturell armseliger Kerl geblieben ist. Ausgerechnet der schafft es, geschäftlich erfolgreich zu werden, im Gastgewerbe. Das stimmt der alte Satz, wer nichts wird, wird Wirt. Das alleine ginge ja. Gut. Aber dann kommt er in diese Familie Kahlenberg. Heiratet Anna Kahlenberg, eine Frau, sehr attraktiv, was nichts bedeutete. Aber sie ist schön, reich … und gebildet. Ihr Haus? Literatur, Malerei, Skulpturen, Klassische Musik. Es ist schön dort. Wohnlich. Stilvoll.
Und bei Kandras … ein Wohngrab. Es tut weh zu sehen, wie jämmerlich man mit viel Geld leben kann. In keinem seiner Räume ist irgendein Einfluss von Anna Kandras zu spüren. Und das passt nicht zusammen. Je mehr ich darüber nachdenke wird mir umso klarer, dass da etwas überhaupt nicht stimmig ist! Die Ehe von Anna Kahlenbach und Kandras … ist ein einziges Rätsel. Wie kamen diese beiden Antipoden überhaupt zueinander? Es gab keinen einzigen Berührungspunkt.«
Lydia wickelte gedankenverloren eine Locke um ihren Zeigefinger. »Vielleicht war das eine Ehe, die nur geschäftliche Zwecke verfolgte …?«
»Na ja. Immerhin haben sie eine Tochter.«
»Das will nichts heißen. Aber was wissen wir eigentlich über ihre Vergangenheit?«
Schielin blätterte in seinen Unterlagen. »Schule, Abitur, ein paar Semester Jura studiert, dann zu Volkswirtschaft gewechselt und abgeschlossen. Hier am See aufgewachsen. Allerdings am Untersee bei Überlingen. Die Mutter ist schon gestorben, ihr Vater hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen und Anna Kandras hat die Geschäfte übernommen. So wie das eben üblich ist. Er lebt hier am
Weitere Kostenlose Bücher