Galgeninsel
See, bei Wasserburg. Nichts von Bedeutung. Einfacher ist es da schon mit diesem Kehrenbroich. Den hat sie während des Studiums kennengelernt. Die beiden waren Kommilitonen. Weißt du, aus den Lebensgeschichten wäre es für mich nachvollziehbarer, wenn sie Kehrenbroich geheiratet hätte. Das passte mir besser ins Bild.«
»Ist halt ein abstraktes Bild«, meinte Lydia.
Schielin schüttelte den Kopf. »Nein, denn das wäre in sich logisch …«
Er tippte die Lindauer Telefonnummer ein, die Kandras öfters vermerkt hatte. Nach dreimaligem Tuten meldete sich der Anrufbeantworter der Stadtverwaltung Lindau. Schielin stutzte. Das hätte ihm natürlich auffallen müssen. Die ersten vier Nummern gehörten zur Stadtverwaltung und die Zahlen hier vor ihm wiesen eine direkte Durchwahl aus. Er holte sich das Telefonverzeichnis der Behörden und blätterte zur Stadt Lindau. Nach einigem Suchen fand er die Telefonnummer. Sie war dem Grundbuchamt zugeordnet, und dort einem gewissen Hoibner. Eine kurze Recherche im Einwohnermeldesystem und die Adresse dieses Hoibner war ermittelt. Er wohnte im Wannental. Noble Gegend, dachte Schielin und erzählte Lydia kurz von der Sache.
Dann stand er auf. »Ich mache mich auf, ans Reutiner Ufer, danach rede ich mit diesem Hoibner, falls er zu Hause ist, und wenn es noch ausgeht, fahre ich raus zum Taubenberg. Und du?«
Sie sah ihn an. »Du bist besorgt, oder?«
Er presste die Lippen aufeinander und nickte stumm. »Ich weiß nicht recht, aber da ist was im Busch. Es muss etwas geben, einen … so was wie einen Kristallisationspunkt, der diese so unterschiedlichen Menschen zusammengebracht hat, von welchem alles seinen Ausgang genommen hat. So dass wir hier am Samstagnachmittag sitzen und nicht recht weiter kommen. Verstehst du, was ich meine?«
Lydia stand ebenfalls auf. »Ich klappere die Bootsverleiher und die Liegeplätze auf der Insel ab. Vielleicht hat ja doch jemand was gesehen. Jetzt dürfte dafür die beste Zeit sein.«
Sie verabredeten sich für den Abend zum Essen bei Schielin. Lydia wollte wieder einmal Ronsard tätscheln. Schielin war schon weg, als ihr einfiel, dass sie ihn fragen wollte, aus welchem Grund er ausgerechnet zum Taubenberg fahren wollte.
*
Schielin hatte Glück. Am Langenweg war die Schranke einmal nicht geschlossen. Eigentlich hätte er am Kreisverkehr des Europaplatzes nach links, in Richtung Osten fahren sollen, doch die Insel zog ihn magisch an. Also steuerte er geradeaus, drosselte die Geschwindigkeit und genoss den Blick auf die Bregenzer Bucht. Trotz der inzwischen deutlich abgekühlten Temperaturen waren eine Menge Boote am See unterwegs. Schielin folgte der Heidenmauer bis zum Abzweig unter dem Wall hindurch. Vereinzelte Böen scheuchten die Menschen vom Seeufer weg und hinein, zwischen die schmalen Gassen. Schielin zwängte sich mit Schrittgeschwindigkeit durch die Besuchertrauben bis zum Parkplatz vor dem Amtsgericht und erledigte seine Einkäufe, die ihn kreuz und quer über die Insel brachten. Er querte den Stiftsplatz, vorbei am Haus Zum Cavazzen, hinunter in die Grub. Am Paradiesplatz holte er Schafskäse beim Griechen. Der nächste Besuch gehörte dem Weinhaus Frey in der Maximilianstraße – drei rote Italiener von dort. Über die Cramergasse führte der Weg zurück. Weizenkleie und sonstiges Ökozeug holte er bei Stibi. Er hätte gerne etwas mehr Zeit gehabt. Die Urlauber hatten da mehr Glück. Aber das Vergnügen, seine Stadt mit den Augen eines Urlaubers zu entdecken, blieb ihm als Lindauer sowieso versagt.
Die Recherchetour begann direkt an der Landseite der Seebrücke. Ihr Weg folgte der Ufermauer nach Osten, in Richtung Bregenz. Zur Sicherheit hatte er einen kleinen Rucksack mitgenommen, in dem sich die nötigsten Utensilien zur Dokumentation und Spurensicherung befanden. Der Uferweg brachte ihn hinter der ehemaligen Villa Toscana vorbei, die sich ein vierter Ferdinand von Toscana im vorletzten Jahrhundert als Feriendomizil hatte erbauen lassen. Welch eine grandiose Zeit für Großherzöge und Architekten! Heute stellte sich neureicher Geldadel griechische Säulen vor Backsteinfassaden.
Es ging weiter in Richtung Ladestraße. Privatgrundstücke und Naturschutzzonen verhinderten es ab und an, der direkten Uferlinie zu folgen. In diesen Fällen folgte er dem Straßenlauf und kam nach einiger Zeit in die Ladestraße. Ein ausgedehnter Schilfgürtel hielt den Fahrweg vom Ufer entfernt. Erst gestern, als er Kehrenbroich spontan
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