Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)
Gebet der heiligen Theresa enthielt und verkündete, dass sie nach ihrem Tode zur Erde zurückkehren und alle irdische Kreatur auf ewig mit himmlischen Rosen bedecken würde.
«Wo hast du das her?», fragte ich.
«Oh, ich habe es vor ein paar Jahren in Los Angeles aus einer Zeitschrift in einer Lesehalle rausgeschnitten. Ich trag es immer bei mir.»
«Und du hockst in Güterwagen und liest das?»
«Beinahe jeden Tag.» Sehr viel mehr redete er nicht, verbreitete sich nicht über das Thema der heiligen Theresa, war sehr zurückhaltend in seinen religiösen Ansichten und erzählte mir wenig aus seinem Privatleben. Er ist der Typ des mageren, ruhigen kleinen Gammlers, auf den niemand groß achtet, nicht einmal in Skid Row, dem Nutten- und Kaschemmenviertel, und schon gar nicht auf der Main Street. Wenn ein Bulle ihn beiseiteschubst, lässt er sich beiseiteschubsen und verschwindet, und wenn die Bahnhofsdetektive die Großstadtbahnhöfe unsicher machen und die auslaufenden Güterzüge kontrollieren, dann ist es so gut wie sicher, dass sie den kleinen Mann, der sich im Unkraut versteckt und im Schatten aufspringt, nicht zu Gesicht kriegen. Als ich ihm erzählte, dass ich es am nächsten Abend mal mit dem Zipper, dem erstklassigen Güterzug, versuchen wollte, sagte er: «Ach so, du meinst den Midnight Ghost.»
«Ist das dein Name für den Zipper?»
«Musst mal bei der Eisenbahn gewesen sein und auf dieser Strecke gearbeitet haben.»
«Stimmt. Ich war Bremser bei der South Pacific.»
«Also, wir Gammler nennen ihn den Midnight Ghost, weil du in Los Angeles aufspringst und niemand sieht dich, bis du am nächsten Morgen in San Francisco bist, so schnell jagt das Ding.»
«Hundertdreißig Stundenkilometer, und zwar die ganze Strecke, Väterchen.»
«Richtig, aber es wird nachts mächtig kalt, wenn du nördlich von Gavioty und in der Nähe von Surf die Küste raufjagst.»
«Surf, richtig, und dann die Berge, unten südlich an Santa Margarita.»
«Margarita. Richtig! Aber ich bin mit dem Midnight Ghost schon häufiger gefahren, als ich zählen kann, glaube ich.»
«Wie lange ist es her, seit du zuletzt zu Hause warst?»
«Mehr Jahre, als es mir wert ist, sie zu zählen, glaube ich. Ich komme aus Ohio.»
Aber der Zug setzte sich wieder in Bewegung, der Wind wurde wieder kalt und neblig, und während der nächsten anderthalb Stunden taten wir alles, was in unserer Macht und in unserem Willen stand, um nicht zu sehr zu frieren und mit den Zähnen zu klappern. Ich kauerte mich in eine Ecke und meditierte über die Wärme, über die wahre Wärme Gottes, um die Kälte zu verbannen. Dann sprang ich auf, schlug die Arme übereinander, schüttelte die Beine und sang. Aber der kleine Gammler hatte mehr Übung als ich und lag die meiste Zeit einfach da, in einsames Brüten versunken und mit einem Ausdruck von Bitterkeit auf den Lippen. Meine Zähne klapperten, meine Lippen waren blau. Als es dunkel war, sahen wir zu unserer Erleichterung, wie die vertrauten Berge von Santa Barbara Gestalt annahmen, und bald würden wir anhalten und uns in der warmen Sternennacht neben den Schienen aufwärmen.
Bei dem Bahnübergang, an dem wir absprangen, sagte ich dem kleinen ‹Gammler von der heiligen Theresa› Lebewohl und schlief die Nacht im Sand in meinen Decken, weit unten am Strand am Fuß eines Felsens, wo die Bullen mich nicht sehen und wegjagen konnten. Ich briet mir Würstchen an frisch abgeschnittenen und angespitzten Holzspießen über der Glut eines großen Holzfeuers und machte mir in der rot glühenden Kuhle eine Büchse mit Bohnen und eine Büchse mit Käse-Makkaroni heiß und trank meinen frischgekauften Wein und genoss überglücklich eine der schönsten Nächte meines Lebens. Ich watete ins Wasser, tauchte ein wenig ein und stand da und sah hinauf zum prachtvoll erglänzenden Nachthimmel, Avalokitesvaras Universum der zehn Wunder von Dunkelheit und Diamanten. «Siehst du, Ray», sagte ich vergnügt zu mir, «nur noch ein paar Kilometer, du hast es mal wieder geschafft.»
Glücklich. Nichts auf dem Leib als die Badehose, barfuß, die Haare wild durcheinander, in der feurig roten Dunkelheit, singen, einen ordentlichen Schluck Wein zu sich nehmen, spucken, springen, laufen – so muss man leben. Ganz allein und frei im weichen Sand am Strand, während das Meer draußen stöhnt und sich, weit vom Ufer entfernt, die Sterne der Jungfrau warm und mütterlich im flüssigen Bauch des Wassers spiegeln. Und wenn deine
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