Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)
nach Santa Barbara rollten. Es war ein Bummelzug, und ich hatte vor, die Nacht am Strand von Santa Barbara zu schlafen und am nächsten Morgen entweder wieder einen Bummelzug zu nehmen und mit ihm nach San Luis Obispo zu fahren oder um sieben Uhr abends auf den erstklassigen Güterzug zu springen, der bis San Francisco durchfährt. Als wir irgendwo in der Nähe von Camarillo, wo Charlie Parker umnachtet im Sanatorium gewesen und wieder gesund geworden war, auf ein Rangiergleis auswichen, um einem Güterfernzug Platz zu machen, kletterte ein dünner, alter, kleiner Gammler zu mir in den Wagen und machte ein überraschtes Gesicht, als er mich da liegen sah. Er richtete sich am anderen Wagenende häuslich ein und legte sich hin, das Gesicht mir zugekehrt, den Kopf auf seinen Siebensachen, die genauso schäbig waren wie meine. Und sagte nichts. Als dann auf der Hauptlinie der Ost-West-Zug vorbeigedonnert war, pfiff ganz langsam auch unsere Lokomotive wieder zum Aufbruch, und wir schuckelten wieder hinaus aufs Hauptgleis, während die Luft kälter wurde und von der See her ein Nebel sich über die warmen Täler der Küste zu breiten begann. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, uns tief eingemummt auf den kalten Stahl zu hocken, standen der kleine Gammler und ich auf und liefen hin und her und sprangen auf und ab und schlugen die Arme übereinander, jeder an seinem Ende des Wagens. Kurz danach fuhren wir wieder auf ein Rangiergleis. Diesmal war eine kleine Stadt in der Nähe, und mir kam der Gedanke, dass ich eine billige Flasche Tokayer sehr gut brauchen könnte, um in der kühlen Dämmerung die Fahrt nach Santa Barbara glücklich zu überstehen. «Ob du mal eben auf meine Sachen aufpasst, während ich da rüberlaufe und eine Flasche Wein hole?»
«Na klar!»
Ich sprang an der Seite runter und lief über den Highway 101 zu dem Laden und kaufte außer dem Wein noch etwas Brot und Süßigkeiten. Ich rannte zurück zu meinem Güterwagen, der noch eine weitere Viertelstunde auf dem inzwischen warm und sonnig gewordenen Schauplatz warten musste. Aber es war später Nachmittag und würde bald kühl werden. Der kleine Gammler saß mit übereinandergeschlagenen Beinen an seinem Wagenende vor einer kläglichen Mahlzeit, einer einzigen Dose Sardinen. Er tat mir leid, und ich ging zu ihm rüber und sagte, «Magst ’n Schluck Wein, damit dir warm wird? Vielleicht auch ’n Stück Brot und etwas Käse zu deinen Sardinen?»
«Na klar!» Er sprach von weit weg aus seinem Inneren mit leiser, sanfter Stimme, als ob er Angst oder keine Lust hätte, viel von sich herzumachen. Ich hatte den Käse vor drei Tagen in Mexico City gekauft, ehe ich mit dem billigen, langweiligen Bus die zweitausend langen Meilen durch Zacatecas und Durango und Chihuahua nach El Paso an die Grenze fuhr. Er aß den Käse und das Brot, und er trank den Wein dankbar und mit sichtlichem Wohlbehagen. Ich war zufrieden. Ich rief mir die Zeile aus der Diamant-Sutra ins Gedächtnis zurück, die da lautet: «Übe Nächstenliebe, ohne dir in deinem Geist einen festen Begriff von Nächstenliebe zu machen; denn schließlich ist Nächstenliebe nichts weiter als ein Wort.» Ich war sehr fromm in jenen Tagen und setzte meine religiösen Überzeugungen beinahe vollkommen in die Tat um. Inzwischen kommen mir solche Bekenntnisse über die Lippen, ohne dass ich mehr so recht daran glaube. Ich bin ein wenig müde und zynisch geworden. Denn jetzt bin ich uralt und durch nichts mehr zu begeistern … Aber damals glaubte ich wahrhaftig an die Wirklichkeit von Nächstenliebe und Güte und Demut und Eifer und beschaulicher Ruhe und Weisheit und Ekstase, und ich glaubte, dass ich ein Pilger aus alter Zeit wäre, der in modernen Gewändern die Welt durchwanderte (gewöhnlich den riesigen Dreiecksbogen New York – New Mexico – San Francisco), um das Rad vom wahren Sinn aller Dinge, von Dharma, dem Gesetz, zu drehen und um mir für meine Zukunft als Buddha (Erwecker) und als Held im Paradies Verdienste zu erwerben. Ich hatte Japhy Ryder noch nicht kennengelernt, das sollte erst nächste Woche passieren, und hatte auch noch nichts von ‹Dharma-Gammlern› gehört, obgleich ich zu der Zeit selbst ein vollkommener Dharma-Gammler war und mich für einen frommen Pilger hielt. Der kleine Gammler im offenen Güterwagen bestärkte mich in all meinen Ansichten, indem er beim Weintrinken langsam in Fahrt kam und redete und schließlich ein kleines Stück Papier aus der Tasche zog, das ein
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