Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
ich die Warnung ernst und will am nächsten Wandertag nichts dem Zufall überlassen. Mischke schickt mich zurück auf die «Tour du Lac d’Annecy». Etappenlänge: neunzehn Kilometer, Haupt- und Zwischenanstiege: eintausenddreihundert Meter. Er schreibt, die Strecke sei heftig, und ich solle sie entsprechend ausgeruht und motiviert angehen. Doch der Alpenwetterbericht aus Chamonix kündigt für den Nachmittag «heavy thunderstorms» an. Schon jetzt hängt ein zarter Wolkenschleier in den Gipfeln. Netter Versuch, Schicksal.
In aller Frühe biege ich in die Uferstraße ein. Es ist schließlich Wochenende, und um diese Uhrzeit sollte der Verkehr überschaubar sein. Im Übrigen werde ich lieber überfahren, als bei Gewitter in eine Schlucht zu stürzen oder im Schneesturm elendig zu erfrieren. Der See liegt still, und die Berge lächeln mich friedlich an. Während ich mich durch das Gestrüpp hinter den Leitplanken quäle oder meine Beine in engen Kurven an die Begrenzungsmauer der Fahrbahn quetsche, beginnen die Gipfel leise zu singen: «Komm, mein Freund, lauf doch nicht über Asphalt! Die Uferstraße ist gefährlich! Komm lieber hoch zu uns! Hat dir der Ausblick gestern nicht gefallen?» Doch ich marschiere stoisch weiter, ignoriere die Sirenen und bete, dass kein Autofahrer mich übersieht. Der Berg ruft, und ich lasse ihn rufen.
Irgendwann liegt der Lac d’Annecy hinter mir, ich verlasse die Straße auf einem Feldweg und laufe durch eine Kirschblütenallee. Kein Wagen überrollt mich, kein Hund beißt mich, keine Biene sticht mich, und schon am Mittag erreiche ich mein Etappenziel, das Dorf Faverges. Ohne Probleme finde ich eine Unterkunft, ironischerweise im «Hôtel de Genève». Ich schließe die Zimmertür, verriegele die Fenster, lege mich aufs Bett und höre dem Gewittersturm zu, wie er auf der Suche nach mir wütend durch die Straßen tobt. Wenn alles im Leben von einer höheren Macht vorbestimmt ist, dann hat sie sich heute vielleicht umentschieden. Nur zur Sicherheit schlüpfe ich unter die Decke und versuche, mich den Rest des Tages nicht mehr zu bewegen.
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Kapitel 16
Der Weg des kleinen Glücks
(Faverges–Lanslebourg)
I ch hatte das Schicksal überlistet, doch mir war klar, dass es Rache nehmen würde. Es dauerte nur vierundzwanzig Stunden. Bis dahin verlief alles wie im Traum. Ich erwachte in einem Stück, das Unwetter hatte aufgegeben, keine Wolke war mehr am Himmel zu sehen, und auf meinem bestens ausgeschilderten Weg erlebte ich das Wandern in all seinen Facetten: Ich lief über Skipisten, Felder und Kuhwiesen, vorbei an Burgen und Klöstern, stakste durch reißende Gebirgsbäche und kämpfte mich durch dichte apfelgrüne Laubwälder. Hypnotisiert vom Glockengebimmel und vom Zirpen der Grillen, vergaß ich sogar meinen Tinnitus. Nur hin und wieder warfen mich Motocross-Fahrer aus meinem Film.
Doch der Traum endet in einem Blechkasten an der Autobahn. Das «Balladins Express» ist heute meine einzige Übernachtungschance. Warmherzig wirbt die Hotelkette mit dem hübschen Spruch «Partout, rien que pour vous», «Überall sind wir für Sie da». Das Firmenmotto wird in der Nähe von Tournon allerdings recht frei interpretiert. Auf dem Parkplatz begrüßt mich der Chef des Hauses persönlich: ein gelber Automat in einem hölzernen Gartenhäuschen aus dem Baumarkt, die «Réception automatique». Ich berühre den Touchscreen, tippe meinen Namen und die Anzahl der Nächte ein, und das Gerät schreit nach meiner Kreditkarte. Dreißig Euro, ein sensationeller Preis. Mein Schlüssel fällt in das silberne Ausgabefach.
Wenn du das echte Frankreich erleben willst, hat ein Freund vor der Reise zu mir gesagt, musst du in einem der berüchtigten Selbstbedienungshotels absteigen. Voilà, ich bin bereit. Vorsichtig öffne ich die Glastür und betrete den braun gekachelten Empfangsbereich. Auf der rechten Seite teilt ein metallener Rollladen den Raum, in der Mitte steht ein weißer Plastiktisch mit Zeitschriften, daneben ein Kunststoffbaum. Links führt eine Schwingtür in ein schwarzes Loch. Nur tastend komme ich über den stockfinsteren Hotelflur, einen Lichtschalter suche ich vergeblich, dann nehme ich meine Taschenlampe zur Hilfe. Trotzdem dauert es eine Weile, bis ich mein Zimmer gefunden habe, denn ein mannshoher Wäschewagen versperrt den Eingang. Ich schiebe das Monstrum zur Seite und bin verblüfft: Mein Schlafplatz ist zwar winzig, aber modern und sauber – abgesehen von
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