Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Wanderlehrer es vorhersagte, bleibt der Weg gnädig und führt meistens leicht abwärts durch die Ebene.
Als ich Annecy am späten Nachmittag erreiche, bekomme ich einen Schrecken. Die Altstadt mit ihren Blumen, Arkaden und Kanälen ist noch schöner und romantischer als Straßburg. Manche nennen es das Venedig der Alpen, was eigentlich der größte anzunehmende Horror für einen Solo-Wanderer sein müsste. Doch heute Abend muss ich nicht alleine essen und sentimental in das Kerzenlicht starren. Ein alter Bekannter leistet mir Gesellschaft – er leuchtet in einem lilafarbenen Himmel über den Bergen und den Zinnen der Stadt. Junge, was bin ich froh, dich wiederzusehen. Die Zeitungen nennen ihn den Supermond. In dieser Nacht, heißt es, sei er der Erde so nah wie nie.
Mein kreisrunder Freund und ich essen überteuerte Pizza und trinken Rotwein am Ufer des Thiou, der durch die Innenstadt rauscht. Der Fluss führt unheimlich viel Wasser, ein gutes Zeichen: Der Schnee schmilzt. Im untergehenden Licht stellt der Palais de l’Île, das angeblich meistfotografierte Gebäude Frankreichs, neue Zelluloid-Rekorde auf. Ein amerikanisches Pärchen am Nebentisch findet dieses ehemalige Gefängnis aus dem 12. Jahrhundert «awesome» und «absolutely amazing», wie wohl alle Sehenswürdigkeiten dieser Welt. Diesmal stimme ich ihnen zu. Ein Japaner studiert sorgsam die Karte, bestellt ein Käsefondue und verspeist es so genüsslich und liebevoll, dass jeder ölige gelbe Faden eine Freude ist. Und auf den Stufen der schneeweißen Église St. Maurice steht eine Blaskapelle, spielt «Ein Freund, ein guter Freund», und sofort stimmen deutsche Touristen operettenhaft mit ein. Ich auch. Ist es denn zu glauben? Heute war der perfekte Tag.
Annecy liegt an einem riesigen Gebirgssee, auch er ist ein echter Streber. Der Lac d’Annecy soll der sauberste See Europas sein, und tatsächlich kann ich am frühen Morgen durch das kristallklare Wasser bis auf seinen Grund sehen. Marc Mischke rät mir, das Gewässer an der deutlich schmaleren Ostseite zu passieren. Dort könne ich zwischen zwei Routen wählen, beide seien allerdings etwas problematisch. Entweder laufe ich über die stark befahrene Uferstraße, an der es keinen Fußweg gebe. Oder ich nehme den Wanderweg «Tour du Lac d’Annecy», der hoch oben über die Bergketten führe. Er gelte jedoch als sehr anspruchsvoll und sei für den Anfang vielleicht zu viel des Guten, schreibt Mischke. Heinrich IV. wird sicher am Ufer entlanggeritten sein. Aber ich bin schließlich ein Kraftwürfel und möchte meine Wanderehre wiederherstellen, die ich durch die peinliche Thermoskannen-Busfahrt verloren habe.
Klick, Klack, die Teleskopstöcke ausgefahren, beginne ich mit dem Aufstieg. Anfangs behindern mich die Gehhilfen mehr, als dass sie mir helfen. Irgendwie ist mir immer ein Carbon-Bein im Weg. Doch je steiler der Pfad nach oben wird, desto mehr weiß ich sie zu schätzen, und ich lerne, mit ihnen zu laufen. Wie ein 4×4-Geländewagen arbeite ich mich den Berg hoch, stütze den Oberkörper auf die Stöcke und belaste gleichmäßig Arme und Beine. Trotzdem bin ich schon nach einer Viertelstunde fertig mit den Nerven, dem Kraftwürfel geht die Luft aus. Meine Haare sind klitschnass, Schweiß tropft auf mein Thermo-Shirt, und ich setze mich auf einen Stein, um etwas zu trinken. «Parcours Keller» steht auf einem blechernen Schild, das mir gegenüber an einem Felsen angebracht ist. Es erinnert an einen gewissen «Denis Keller», der an dieser Stelle wohl das Zeitliche gesegnet hat. Na bravo.
Ich will mich gerade wieder aufraffen, da kommen zwei Jogger den Weg hinaufgerannt, und ich mache ihnen Platz. Ein weiterer folgt wenig später. Faszinierend. Leichtfüßig wie Bergziegen hüpfen die drei an mir vorbei. Keine Spur von Erschöpfung, der Anstieg lässt sie anscheinend völlig kalt. Da sieht man, worin sich Kraftwürfel und drahtige, durchtrainierte Leistungssportler unterscheiden. Mit meinem Gewicht und dem Zwölf-Kilo-Rucksack auf dem Rücken bin ich ein Lastwagen auf der Wanderautobahn. Außerdem fällt es mir heute besonders schwer, mich zu orientieren. Der Waldweg ist wahnsinnig schmal und führt immer wieder über größere Felsen. Oft muss ich stoppen und in einem Suchbild aus Steinen, Ästen und Baumstämmen nach Markierungen Ausschau halten. Dabei kann auch ich noch etwas lernen. Die «Tour du Lac d’Annecy» ist mit einer gelb-roten Flagge gekennzeichnet. Wenn dagegen ein gelb-rotes
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