Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Kreuz auftaucht, bedeutet das nicht etwa «Hier lang!», sondern «Hier nicht lang!». Diese Lektion kostet mich sechs Kilometer Umweg und zusätzliche anderthalb Stunden. Und ich gewinne noch eine weitere wichtige Erkenntnis fürs Leben: Niemals sollte man eine Thermoskanne mit kohlensäurehaltiger Flüssigkeit füllen. Das blöde Ding.
Nach über zwei Stunden Wanderung stiefle ich noch immer den Hang hinauf und habe mich keinen Meter Luftlinie von Annecy entfernt. Bald überholt mich sogar eine Rentnergruppe. Die bestens ausgerüsteten Senioren erzählen mir, sie kämen aus der Gegend und seien diesen Weg schon in ihrer Kindheit gelaufen. Als ich die Turbo-Rentner später auf dem Gipfel des Mont Veyrier einhole, haben sie ihr Pausenbrot schon verdrückt und ziehen weiter. Ich schaue ins Tal. Wie soll ich die Aussicht beschreiben, ohne die abgenudelten Reiseführer-Vokabeln «Panorama», «majestätisch» oder «überwältigend» zu verwenden? Es fällt mir schwer, weil ich vielleicht noch nie etwas so Schönes gesehen habe. Alles strahlt und scheint beinah unwirklich: Der See leuchtet intensiv türkis, am Ufer leuchten die roten Dächer von Annecy, und am Horizont kann ich den Schnee auf den Zweitausendern leuchten sehen, die vor mir liegen. Vielleicht gehört eine der weißen Kuppen dem Mont Cenis.
Nun laufe ich von Gipfel zu Gipfel den Kamm entlang, und auf dem Mont Baron ist das majestätische Panorama noch überwältigender. Ein Adler kreist über der Alpenlandschaft und komplettiert den Kitsch. Auf Augenhöhe saust ein weißes Sportflugzeug durch mein Blickfeld, Paraglider schrauben sich lautlos durch den Himmel, und unter mir an der Felswand hängen Kletterer. Der Lac d’Annecy ist ein Sportlerparadies mit sieben Millionen Touristen im Jahr, trotzdem scheiterte Annecy mit einer Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2018 kläglich. Die Lokalpolitiker hatten sich überlegt, das Seeufer vor der Stadt mit einem gigantischen Olympiastadion zu planieren. Leider hatte niemand mit den Bürgern von Annecy geredet.
Die letzten Stunden der Wanderung bringen mich endgültig an meine Grenzen. Der Abstieg führt zunächst über Felsen und dann über aufgeweichten Waldboden. Manchmal drücke ich mich dicht an der Bergwand am Abhang entlang und merke, dass ich nicht ganz schwindelfrei bin. Proviant und Wasser gehen zur Neige, die Sonne brennt erbarmungslos. Ich werde müde und unaufmerksam und rutsche immer wieder aus. Ohne die Wanderstöcke, mein drittes und viertes Bein, käme ich jetzt kaum noch weiter. Vielleicht bin ich auch übervorsichtig, aber Sport-Goofy möchte sich eben nicht die Haxen brechen, sonst könnte er Canossa vergessen. Die Jogger scheinen sich weniger Sorgen zu machen. Sie springen von Stein zu Stein, als bestünde die Landschaft aus Schaumstoff, und erinnern mich an die waghalsigen Hindernisläufer aus der japanischen Fernseh-Show «Takeshi’s Castle».
Abgekämpft und zerzaust erreiche ich das «Les Grillons» in der Nähe von Talloires. Es scheint das einzige Hotel in der Gegend zu sein, das zu dieser Jahreszeit geöffnet hat. Auf dem Parkplatz steht ein Reisebus, und die furchtbar aufgesetzte Blondine am Empfang freut sich überschwänglich, mich zu sehen. Sie möchte mir wahnsinnig gerne die gesamte Anlage zeigen. Eine bizarre Situation. Die Lady stöckelt über den roten Teppich der Lobby, ich folge ihr in voller Wandermontur, Dreck an den Schuhen, Schweiß auf der Stirn, die Wangen sonnenverbrannt. Gemeinsam bestaunen wir die Bar, die Sonnenterrasse und den geräumigen Speisesaal. «Très gentil», sage ich, «très, très gentil. Das ist wirklich überaus freundlich.»
«Abendessen gibt es von 19.30 Uhr bis 20.30 Uhr», referiert sie, «und da hinten ist übrigens unser Sarkozy!»
«Ist der nicht gerade im Wahlkampf?»
«Pardon, habe ich Sarkozy gesagt? Ich meinte Jacuzzi.»
Endlich zeigt sie mir mein Zimmer, einen lauschigen Ort mit dunkelroten Tapeten, auberginefarbenen Kissen und kerzenförmigen Lampen über dem Bett. Ich verkneife mir die Frage, ob es nach Stunden bezahlt wird.
Als ich am späten Abend an der Bar einen Mojito trinke und der britischen Reisegruppe dabei zusehe, wie sie das Buffet terminiert, schießt es mir wie ein Blitz durch den Kopf: Genf! Der Inder! Morgen ist Samstag! Fast mitleidig sah mich der Gauner an, als er im «Little India» «Saturday is no good day for you» flüsterte. Was genau mich erwartet, vermochte er zwar nicht zu sagen, trotzdem nehme
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