Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
den langen schwarzen Haaren auf dem Bettlaken. Beißender Zigarettenrauch liegt in der Luft.
Es ist eben nicht das Beau-Rivage, denke ich mir, und spule mein Programm ab: duschen, Socken waschen, Schuhe einwachsen, Route planen, raus in die Wildnis ziehen und Nahrung jagen. Der Rollladen am Empfang ist jetzt hochgefahren, und am Tresen dahinter steht ein blasser Junge in grauem Hemd und grauer Hose. Dazu trägt er eine Krawatte im Gelbton des Firmenlogos. Seine Körperhaltung ist leicht gebückt, sein Ausdruck entschuldigend. Es macht den Eindruck, als wären ihm das Hotel und sein Studentenjob peinlich. Unglücklicherweise seien heute alle Restaurants in der Gegend geschlossen, meint er. Die Skisaison sei vorbei, die Sommersaison habe noch nicht begonnen, und außerdem sei schließlich Sonntag. Für 7,20 Euro könne er mir Ravioli Basilikum anbieten. Sein Unterton aber verrät, dass er den Preis für Wucher hält und das Gericht an meiner Stelle auf keinen Fall bestellen würde. Ich muss an meine Studienzeit denken. Damals habe ich mich fast ausschließlich von Dosenravioli ernährt. Die zweite Delikatesse auf meinem akademischen Speiseplan: Frischeiwaffeln von Aldi.
Wenig begeistert lege ich das Geld auf den Tisch, der Junge schlurft nach hinten, und ich höre, wie er eine Mikrowelle einschaltet. Die nächsten fünf Minuten gehören wohl zu den längsten unseres Lebens. Der Heißmacher röhrt, der graue Student starrt betreten auf den Boden, ich sitze auf einem Plastikstuhl, massiere die Blätter des Kunststoffbaums und studiere die braunen Kacheln. Nach einer gefühlten halben Stunde geht der Student in die Küche, kehrt zurück und nuschelt: «Ist gleich fertig, Monsieur.» Wir beide wissen, wie armselig dieser Moment ist. Draußen fließen Milch und Honig, und wir sitzen hier im Neonlicht und warten, bis elektromagnetische Strahlen alle Vitamine und Nährstoffe meines eingeschweißten Abendessens zerschossen haben. Endlich macht es «Ping!», und der Junge reicht mir das Festmahl auf einem schwarzen Tablett. Ich trotte durch den dunklen Gang in meine Kammer, lege mich aufs Bett, ziehe die Folie von der Plastikschale und wundere mich nicht: alles verkocht. Wie gut, dass ich noch einen geschmolzenen Schokoriegel in der Tasche habe.
Laute Motorengeräusche reißen mich aus dem Schlaf, neue Nachbarn ziehen ein. Zwei Biker poltern über den Flur, eine Frau kichert hysterisch, es dauert eine Ewigkeit, bis sie sich beruhigen. Mitten in der Nacht werden sie wieder munter. Die Männer stöhnen und keuchen wie eine halbe Rinderherde, ihre Spielwiese schlägt immer wieder gegen meine Wand, und die Dame zwischen ihnen scheint sehr gläubig zu sein, denn sie ruft ständig nach ihrem lieben Gott. Ist das also das typische Frankreich, die Ménage à trois?
Traum und Trauma sind Geschwister auf meiner Alpentournee. Es gibt Tage, an denen mir einfach alles auf die Nerven geht. Die Hotels nerven, die Kühe nerven, die freundlich grüßenden Bauern nerven, ich nerve mich selbst, und die Berge engen mich ein. Langsam wachsen die Gipfel immer höher, die Täler schieben sich zusammen, und der Horizont verschwindet. Ich glaube, die Welt teilt sich in Meer-Menschen und Berg-Menschen – ich scheine ein Meer-Mensch zu sein, ich brauche Weite, ich will in die Ferne sehen. Aber damit ist es vorbei. Entweder laufe ich über asphaltierte Straßen in der Senke, oder ich wandere in tieferen Hanglagen, denn oben auf den Gipfeln liegt jetzt Schnee. Vermutlich wähle ich exakt denselben Weg wie Heinrich IV. und alle Heerführer, Händler, Schmuggler und Pilger, die in den vergangenen Jahrhunderten an dieser Stelle die Alpen überquert haben. Für sie war es die einfachste Route. Ich aber muss zusehen, dass ich nicht auf die Autobahn gerate.
An anderen Tagen lässt mich das Gebirge seltsam euphorisch werden. Dann renne ich im Adrenalinrausch durch die Walachei, bis ich nicht mehr kann, und breche dann entweder in Tränen oder in übertriebenes Gelächter aus. Bin ich manisch-depressiv? Ein Grund dafür liegt sicher im Wandern selbst. Die vielen Stunden in der Natur machen das Herz weit und verletzlich, da geht es mir wie Goethes jungem Werther. Der zweite Grund ist wohl meine Einsamkeit. Allmählich entferne ich mich von den Touristenzentren, und Jogger, Kletterer oder Turbo-Senioren tauchen einfach nicht mehr auf. Das hier ist nicht der Jakobsweg. Niemand läuft an meiner Seite, niemand spricht mich an, niemand fragt, ob er mich ein
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