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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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Stück mitnehmen kann. Und wenn ich reden will, rede ich mit mir selbst.
    Manchmal haben die Alpentäler etwas Weihnachtliches. Immer wenn ich dabei bin, die nächste Tür des Kalenders zu öffnen, frage ich mich ungeduldig: Welche Überraschung wartet wohl auf mich? Zum Beispiel die siamesischen Zwillinge Saint-Jean-de-Maurienne und Saint-Michel-de-Maurienne. Die Kleinstädte erinnern mich an Villarriba und Villabajo aus der Fairy-Ultra-Werbung: Während es in St. Jean in Strömen regnet, sind es in St. Michel schon über dreißig Grad. Eine Etappe der Tour de France führt durch beide Orte, und Fans haben die Namen ihrer Lieblings-Dopingsünder mit gelber und blauer Farbe auf die Straße gepinselt: «CONTADOR» und andere stehen auf dem Asphalt. Eigentlich sollten die Jungs bei der nächsten Tour direkt bis Canossa durchfahren, finde ich.
    In dieser Gegend sausen ständig Radrennfahrer an mir vorbei, Profis und Amateure. Die einen durchtrainiert, die anderen gerne auch mal bierbäuchig. Beide Gruppen tragen Trikots und sehen aus wie fahrende Litfaßsäulen. Der größte Unterschied zwischen ihnen: Die Amateure haben Zeit zu grüßen. «Wohin des Wegs, Pilger?», ruft einer. «Nach Canossa!», rufe ich zurück. «Viel Erfolg!», lacht er und ist verschwunden. Die Profis dagegen sind fokussiert und scherzen nicht. Abends sitzen die spindeldürren Männer grüppchenweise bei der Nahrungsaufnahme in St. Jean oder St. Michel und schweigen. Sie essen nur, um zu essen. Was zählt, ist das Training am nächsten Tag.
    Meine Route wird von Etappe zu Etappe unvorhersehbarer, auch für meinen Wanderlehrer. Auf den Wegen am Hang, die Marc Mischke mir empfiehlt, liegen oft gewaltige Tannen, die der Winter entwurzelt hat. Ich versuche, darüber zu klettern oder mich irgendwie durch das Dickicht um sie herum zu schlagen. Das geht nicht immer gut. Zwischen Saint-Michel-de-Maurienne und Modane, auf meiner neunten Alpenetappe, kraxele ich morgens fünfhundert Meter in die Höhe und gelange nach etwa anderthalb Stunden auf einen ausgeschilderten Pfad, der mich ans Ziel bringen soll. Er ist auf meiner Karte eingezeichnet, und auch das GPS auf dem Handy zeigt ihn an. Doch nach zehn Kilometern wird er immer schmaler und bewachsener, bis er sich ganz im Dorngestrüpp verliert. Ich irre noch eine Weile durch den Busch und entdecke die Ruinen alter Wohnhäuser. Offenbar hat es hier tatsächlich mal einen Weg gegeben, doch seit fünfzig Jahren ist ihn wohl keiner mehr gelaufen. Frustriert muss ich umkehren und die komplette Strecke zurückwandern.
    Nach geschlagenen fünf Stunden stehe ich wieder am Marktplatz von Saint-Michel-de-Maurienne. Wie sinnlos. Ich mache eine längere Pause und versuche dann, über die Talstraßen ans Etappenziel zu kommen. Das übliche Spiel: Es gibt keinen Seitenstreifen, die Autofahrer hupen, schütteln den Kopf und wundern sich darüber, was ich hier tue. Eigentlich sonderbar. Ist Gehen nicht die ursprünglichste Fortbewegungsart von allen? Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft, hat Emil Zatopek einmal gesagt.
    Die zehnte Etappe soll mich endlich an den Fuß des Mont Cenis bringen. «Heute werden Sie zunächst am schattigen Nordhang laufen und dabei weiter an Höhe gewinnen», schreibt der Wanderlehrer. Er sagt, über den «Chemin du Petit Bonheur», den Weg des kleinen Glücks, würde ich nach Lanslebourg gelangen, das auf über eintausendfünfhundert Metern liege. Wie süß: «Kleines Glück» – das klingt so schön gemütlich. Wie die Lieblingsbank im Park, eine Parzelle in der Schrebergartensiedlung oder die Doppelhaushälfte mit Hund, Katze und Kombi in Halstenbek-Krupunder.
    Doch der Weg ins Glück beginnt mit einem brutalen Anstieg. Ein kleiner Pfad führt steil durch den Wald nach oben. Trotz der Wanderstöcke rutsche ich dauernd weg, der Boden ist nass und manchmal noch vereist, der verdammte Rucksack zerrt mich nach unten. Ich bleibe an Ästen hängen, einer reißt mir die Sonnenbrille aus dem Gesicht, und ich kann sie einfach nicht mehr finden. Immer wieder muss ich eine Pause einlegen, Wasser trinken und nach roten Markierungen an den Bäumen suchen. Der Hang wird steiler, der Weg immer enger, und obwohl es noch kühl ist, sehe ich schon aus, als hätte ich geduscht. Wenn ich zurückschaue, wird mir schwindelig. Der Blick nach oben aber macht mir Angst. Es scheint, als würde dieser Berg niemals enden und direkt in den Himmel führen.
    Mit der Zeit unterscheidet sich der Pfad immer weniger

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