Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
vom Waldboden. Die roten Zeichen sind weg. Ich finde keine einzige Markierung mehr und habe mich offensichtlich verirrt. Ich komme nicht allein über die Alpen, hat Lotte gesagt. Wieder hinabzusteigen traue ich mich aber auch nicht. Cool bleiben, sagt mein Verstand, doch der hat im Moment nichts zu melden. Panisch beginne ich, einfach stumpf geradeaus zu rennen. Immer weiter die Steigung hoch, quer durch den Wald. Du schaffst das nicht, sagen meine Unterschenkel. Du schaffst das nicht, sagt meine Lunge. Ich schaffe das, sagt mein Kopf – und dann bin ich oben.
Gibt es hier irgendwo ein Taxi? Nein, gibt es nicht. Eigentlich gibt es hier gar nichts. Auf dem Zwischenplateau liegt nur ein ausgestorbener Skiort. Ich gehe über den Marktplatz von La Norma, und es ist absolut still. Bizarr. Die Gardinen der Bettenburgen sind zugezogen, sogar der Springbrunnen schweigt. Der Supermarkt ist verrammelt, die Touristeninformation geschlossen, «Intersport» und «Sport 2000» vertrösten auf den nächsten Winter. Es ist haargenau wie in einem Zombie-Film. Wann springt wohl der erste Untote aus der Boulangerie, dem Crêpe-Restaurant oder der Tao-Bar? Und wer ist eigentlich schlimmer: Zombies oder Touristen? Die größte Gefahr in dieser Gegend scheint offenbar von Schafen auszugehen. «Hikers, please don’t disturb the flocks!» steht auf einem Warnschild im Wald. Ich soll also die Herden nicht stören, das aber zu meiner eigenen Sicherheit, denn sie werden von großen weißen Hütehunden beschützt: «Wenn Sie einem Wachhund begegnen, Ruhe bewahren und abwarten! Die Tiere brauchen Zeit, um Sie zu identifizieren.»
Ab jetzt zieht sich der Weg des kleinen Glücks viele Kilometer weit den Hang entlang. Die Strecke führt leicht abwärts durch einen Wald, das entspannt. Nur das fabelhafte Wetter macht mir Sorgen. Es wird immer wärmer, und ich Depp habe schon die Hälfte meines Wassers verbraucht. In einem Taleinschnitt überquere ich die Pont du Nant, und von der Brücke aus kann ich den ersten Vorboten Italiens sehen: Wie ein tibetanisches Kloster thront auf dem Berg gegenüber ein Fort aus fünf steinernen Festungen. Fünf Fäuste für ein Halleluja. Im 19. Jahrhundert gehörte diese Alpenregion zum Königreich Sardinien, und die Redoute Marie-Thérèse sollte den Weg zum Mont Cenis versperren.
Nach zwei Stunden wird die Strecke breiter, über eine Wiese erreiche ich Bramans. Das Bergdorf wirkt so verlassen und heruntergekommen wie viele andere auf meinem Weg. Manche der Steinhäuser stehen leer, ihre Fenster sind mit Brettern vernagelt, und es ist so still, dass ich das Surren in den Strommasten hören kann. Auch in den Alpen zieht es das Leben in die Stadt, und die kleinen Orte bluten aus. Umso überraschter bin ich, als sich eine Brettertür öffnet und ein Greis mit weißen Haaren vor mir erscheint. Er ist nicht weniger verdutzt, mich zu sehen. In der linken Hand hält er einen Holzeimer, die rechte gibt er mir, sie fühlt sich ledrig an. Er will alles genau wissen: wie ich heiße, was in meinem Rucksack ist, wo ich herkomme, wo ich hinwill und warum. «Italien, Monsieur? Sie wollen nach Italien laufen? Aber doch nicht über den Mont Cenis, oder?» – «Doch! Ganz genau!», sage ich, und der alte Mann stellt seinen Wassereimer ab. «Großer Gott, Monsieur, der Berg ist furchtbar! Das ist ein Zweitausender! Deux milles! Da oben steht der Schnee immer noch drei Meter hoch!» Jetzt schwirren seine knöchernen Arme wie Windmühlenflügel durch die Luft. Immer wieder zeigt er mir an, wie hoch drei Meter Schnee und zweitausend Meter Berg sind. «Deux milles, Monsieur! Ich will Ihnen ja keine Angst machen, aber da kommen Sie nie im Leben rüber! Wissen Sie eigentlich, wie steil der Mont Cenis ist?» Ich zucke hilflos mit den Schultern und lächle verlegen, der Greis schmunzelt zurück. Zum Abschied gibt er mir beide Hände. Die Warnung kommt von Herzen, und doch blitzt in seinen großen wässrigen Abenteureraugen ein Funken Sympathie. Wenn er jünger wäre, würde er mich sicher gern begleiten.
Ich laufe mit gesenktem Kopf weiter. Natürlich hat mir der Greis Angst gemacht, das ist die eine Sache. Vor allem aber versuche ich, mein Gesicht vor der Höhensonne zu schützen. Der Weg des kleinen Glücks führt nur noch über freies Gelände, der Boden reflektiert die Strahlen, und bald wandere ich durch ein gigantisches Solarium – die Hitze kommt von allen Seiten. Natürlich sind die Schokoriegel in meinem Rucksack längst
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