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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Gastmann
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Haus.
    Am nächsten Morgen fühle ich mich besser. Mein vermeintliches Fieber ist abgeklungen, und der Kopf ist klarer. Ich frühstücke auf der Terrasse, gucke in die Luft und weiß gar nicht, wie mir geschieht. Das Essen ist liebevoll zubereitet, der Kaffee ein Genuss und die Aussicht ein Gemälde. Am azurblauen Himmel zieht eine Schäfchenwolke vorbei, ihr Schatten wandert gemächlich über den See und verflüchtigt sich hinter einem tannenbewachsenen Hügel. Bis auf den Windhauch ist es fast still, nur ein Hund bellt in der Ferne. Ich solle den Tag genießen, sagen die Leute, für diese Jahreszeit sei das Wetter außergewöhnlich schön. Genau wie mein Etappenziel. Wenn alles gut geht, erreiche ich heute Annecy, die «Alpenstadt des Jahres 2012» – was auch immer das heißt, ich bin gespannt. Diesen Morgen sollte ich im Kalender markieren, denn ich habe rein gar nichts an ihm auszusetzen. Ist das die Weitsicht, von der Pfarrer Bender im Beichtstuhl gesprochen hat?
    «Abgesehen von kleinen Zwischenanstiegen, führt die heutige Strecke überwiegend abwärts», schreibt mein Wanderlehrer und wünscht viel Glück. Direkt hinter dem Haus beginnt mein Weg. Er steigt tatsächlich ein wenig an, doch auf die Teleskopstöcke möchte ich erst mal verzichten. Die Dinger erinnern mich an den bösen Rolf und an Nordic Walking, irgendwie sind sie mir peinlich. Weil ich so lange nicht gewandert bin und mich immer noch etwas schlapp fühle, lasse ich es langsam angehen. Im Rhythmus der Kuhglocken, sachte und ruhig, stiefle ich die kleine Anhöhe hinauf. Der Pfad führt zunächst in einen Wald, dann biegt er nach links ab und teilt eine Wiese, auf der etwas Löwenzahn blüht. Die Bäume zu beiden Seiten verschwinden, die Perspektive öffnet sich, und plötzlich, wie ganz von selbst, kullern dicke Krokodilstränen über meine Wangen.
    Jeden Tag, jede Stunde, seit ich in Hamburg losgelaufen bin, habe ich an die Alpen gedacht. Und jetzt, wo sie zum ersten Mal so nah sind, dass ich meine, sie berühren zu können, bin ich ähnlich ergriffen wie ein Kapitän, der nach langer Zeit auf See in den Hafen einfährt. Im Morgenlicht wird die unbezwingbare Wand aus Stein, Eis und Schnee zu einer weichen Silhouette, und meine Furcht vor dem Scheitern, die Angst, in den Bergen das Leben zu verlieren, wandelt sich in dieser Sekunde in eine befreiende, unendlich tiefe Rührung. Herz und Seele öffnen sich, und aus ihrer Mitte entspringt ein Fluss aus Tränen. Wann habe ich das letzte Mal so geweint? Es ist ein schönes Gefühl. Ist es nicht vollkommen egal, ob ich die letzten zweihundert Kilometer zu Fuß gegangen bin oder nicht? Wer hat die Regeln aufgestellt? Das war ich selbst. Und nur mir allein wollte ich damit etwas beweisen. Vielleicht wird es Zeit, diese Reise zu genießen.
    So sprunghaft wie meine Stimmung ist auch das Wetter. Jeden Tag eine neue Jahreszeit. Vorgestern Frühling, gestern Herbst und heute auf einmal Sommer. Die Wärme tut gut. Und obwohl mir immer noch etwas schwindelig ist, laufe und laufe und laufe ich jetzt zuverlässig wie ein VW Käfer. Ich bin eine Maschine. Nein, noch viel mehr: Ich bin ein Kraftwürfel, ausdauernd wie der Duracell-Hase und stark wie ein Büffel, den Rucksack spüre ich kaum mehr. Es ist ein völlig neues Körpergefühl.
    Meine Freunde nennen mich immer «Sport-Goofy» oder «Bewegungslegastheniker», denn normalerweise stehe ich mit körperlicher Ertüchtigung auf Kriegsfuß, und bei gemeinschaftlichen Leibesübungen kann ich mir sensationelle Verletzungen zuziehen. Einmal gelang es mir, beim Kicken im Garten mit beiden Füßen gleichzeitig umzuknicken. Ich stoppte das Leder am Garagentor, trat auf den Ball, knickte darauf um, fiel auf den anderen Fuß und knickte wieder um. Das Ergebnis: links eine schwere Knöchelverstauchung, rechts ein doppelter Bänderriss. Die Ärzte im Osnabrücker Stadtkrankenhaus haben wohl selten so gelacht. Immerhin konnte ich keine Eigentore mehr schießen.
    Fast wie in Trance laufe ich dreißig Kilometer durch eine Szenerie aus Hügeln und kleinen Bauernhöfen, die mich ans Allgäu erinnert. Die Blätter der Bäume beginnen allmählich zu sprießen, und die ersten Leute trauen sich, in den breiten Gebirgsbächen zu baden. Meine Wanderschuhe sind ein Wohnzimmer geworden. Nichts drückt, nicht pikst mehr. Die Füße haben sich mit den Schuhen arrangiert – oder die Schuhe mit den Füßen. Es scheint, als würden sie mit jedem Schritt bequemer. Und wie mein

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