Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
sei. Etwas später muss ich erfahren, dass der arme Johnny Cash in einen Ring aus Feuer gefallen ist. Wie unangenehm.
Wenn ich eins aus tiefstem Herzen hasse, dann ist es Countrymusik, doch ich kann ihr nicht entfliehen. Das Gedudel schraubt sich von der Terrasse durch die dünnen Fensterscheiben meines Zimmers direkt in mein Gehirn. Es beginnt am Morgen um Punkt neun und endet erst abends um elf. Dazwischen läuft immer die gleiche Best-of-Western-Platte in Heavy Rotation: «Country Roads, Take Me Home», «Amarillo», «Ring of Fire» und so weiter und so fort. Die meisten Songs kann ich mittlerweile mitsingen, denn ich bin schon seit Tagen der einzige Gast im einzigen geöffneten Gasthof von Lanslebourg. «La Vieille Poste» wird von einer polnischen Familie geführt, die aus unerfindlichen Gründen eine Schwäche für Cowboyromantik hat.
Mein Zimmer versprüht den liebevollen Charme des Ostblocks. Allein die Farbkombination ist atemberaubend. Zur fliederfarbenen Tagesdecke gesellt sich ein Bettkasten in blassem Türkis. Auf der grauen Naturfasertapete sind rosafarbene Tupfer, der Teppich ist hellblau, die Badezimmertür dunkelblau, und das beigefarbene Kunststoff-WC ist ein echtes Highlight. Beim Druck auf den Spülknopf geschieht erst mal nichts. Nach zwei Sekunden aber beginnt das Klosett langsam zu vibrieren und dann leise zu gurgeln. Das Gurgeln verwandelt sich in ein ohrenbetäubendes Röhren, und mit einem Donnern, das bis nach Warschau zu hören ist, saugt die Schüssel wie eine Flugzeugtoilette schnell und restlos alles in sich auf. Zum Glück verschluckt sie für kurze Zeit auch John Denver, Johnny Cash, den «Rhinestone Cowboy» und alle anderen.
Das zweite Highlight dieses Hauses ist die polnische Kochkunst, und das meine ich ganz ernst. Weil alle Restaurants, alle Pizzabuden und alle Kebab-Läden der Stadt geschlossen sind, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Vollpension gebucht. Bei den Polen bedeutet das: Ich werde dreimal am Tag so lange vollgestopft, bis ich wirklich in Pension gehen könnte. Die Orgie beginnt mit einem Korb Weißbrot, einer Kanne Kaffee, einer Flasche Orangensaft und mehreren Töpfen selbstgemachter Marmelade. Mittags folgen drei Gänge, zum Beispiel Kartoffelsalat mit Möhren, Erbsen und Gurken, Rinderbraten in Rahmsauce mit Kohlrouladen und Posener Germknödel. Am Abend gibt der Koch noch mal alles und zaubert mir vier Gänge auf den Tisch. Das Menü gestern: grüner Salat, Rote-Bete-Eintopf, Schweinekotelett mit gestampften Kartoffeln und Apfelkuchen. Dazu eingelegte Gurken, Zwiebeln, Knoblauch und natürlich jede Menge Weißbrot. Böse Zungen behaupten, die polnische Küche sei etwas schwer. Und sie haben recht. Allerdings sind Kalorien, Fett und Kohlenhydrate nach den zermürbenden vergangenen Tagen meine drei besten Freunde.
So verbringe ich die Zeit in Lanslebourg: Fressgelage, Countrymusik und jede Menge Schlaf. Nur manchmal schiebe ich meine cremefarbenen Vorhänge, die mit dunkelgrünen Tannenzweigen und braunen Zapfen bestickt sind, zur Seite. Dann kann ich direkt auf das Monster schauen, das mir den Weg nach Canossa versperrt: den Mont Cenis. Als ich ihn das erste Mal sah, blieb mir der Mund weit offen stehen. Ein Riese hat sich direkt auf der Grenze zwischen Frankreich und Italien niedergelassen. Ein gigantischer Türsteher, der mit breiten Schultern und verschränkten Armen über dem Dorf wacht und mich nicht aus den Augen lässt. Dieser Berg ruft nicht, er pöbelt: «Zisch ab, Blondie! Du kommst hier nicht rüber! Schon gar nicht mit diesen Schuhen.»
Eigentlich ist der Mont Cenis eine Bergwand. Das Massiv besteht aus Dutzenden wolkenverhangenen Gipfeln, der höchste von ihnen ragt dreitausendsechshundert Meter in den Himmel und ist trotz der Hitze immer noch schneebedeckt. «Deux milles», die zweitausend Meter, von denen der Greis auf dem Weg des kleinen Glücks sprach, beziehen sich auf den «Col du Mont Cenis», Heinrichs sagenumwobenen Alpenpass ins Land der Matronen und Patrone. Wie es das Schicksal will, beginnt der Col direkt vor meiner Nase, direkt gegenüber der «Vieille Poste». Ich kann den steilen Anstieg sogar von meinem polnischen Bett aus sehen.
Italien ist zum Greifen nah, doch ich sitze fest. Die Polen raten mir dringend davon ab, allein ins Gebirge zu ziehen. Der Mont Cenis sei zu dieser Jahreszeit unberechenbar, das Wetter könne von einer Stunde auf die andere umschlagen. Mein Wanderlehrer ist leider nicht mehr zu erreichen, weil er
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