Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
geschmolzen. Jetzt beginnen meine Lederschuhe zu glänzen, das Wachs tritt wieder aus. Ich pushe mich mit Musik. Die Soundtracks von «Last Samurai» und «Gladiator» treiben mich zehn Kilometer weiter, doch dann bleibe ich erschöpft vor einem Wegweiser stehen: Ganze zwei Stunden bis Lanslebourg, und in meiner Wasserflasche schwappt nur ein lächerlicher kleiner Rest. Durst ist ein beschissenes Gefühl, viel schlimmer noch als Hunger. Mir wird schwindelig, mein Kopf ist nicht mehr ganz in dieser Welt. Vielleicht erinnere ich mich deshalb gerade jetzt an den großen deutschen Philosophen Oliver Kahn, der einmal die weisen Worte sprach: «Weiter, immer weiter! Eier, wir brauchen Eier!»
Meine Eier führen mich zurück in den kühlen Wald, das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Ab jetzt geht es wieder nach oben. Ohne Wasser. Ohne Kraft. Auch ohne Hoffnung? Nicht ganz. Ich schätze, es wird Zeit, zum allerletzten Mittel zu greifen. Eigentlich wollte ich mir meinen Joker für den Mont Cenis aufsparen, doch was soll’s. Ich fische die kleine schwarze Patrone aus meiner Seitentasche. «Sudden Rush – nicht geeignet für Kinder und schwangere Frauen». Zucker, Koffein und fünfunddreißig Prozent konzentriertes Guarana, angeblich der intensivste Energy-Shot, den es auf dem legalen Sportlerdrogenmarkt zu kaufen gibt. Guarana, das Aufputschmittel der Amazonas-Indianer, soll für kurze Zeit die Leistung erhöhen und sogar Hunger und Durst unterdrücken. Es stand bis 2004 tatsächlich auf der Dopingliste.
Der eklige Geschmack bleibt lange im Mund. Das Serum ist dickflüssig und schmeckt bitter, irgendwie nach altem Kaffee. Doch es hilft. Die Ampulle ist mein kleines Glück. Ich schaffe auch den letzten Anstieg und kann durch die Bäume manchmal schon auf Lanslebourg blicken. Noch etwa eine Stunde, dann bin ich am Ziel. Endlich finde ich auch einen Gebirgsbach und fülle meine Flaschen wieder auf. Gierig wie ein durstiges Kamel trinke ich das eiskalte Quellwasser, lächle erleichtert, doch plötzlich spüre ich ein Stechen in meiner Stirn und in der Brust. Ich muss mich setzen und sehe durch die Äste, wie sich die weißen Bergspitzen allmählich auflösen. Sie zerfallen in ihre Atome, und jedes Teilchen beginnt zu leuchten. Auch der Wald zersetzt sich in Millionen grüne, braune und schwarze Pixel. Sie strahlen immer heller und verglühen, bis ich nur noch ein gleißendes Weiß sehe. Die Vögel hören auf zu singen, der Wind verstummt, und der Bach fließt lautlos ins Tal. Ich lege mich hin und schließe die Augen. So also fühlt es sich an zu sterben.
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Kapitel 17
Und täglich grüßt das Murmeltier
(Mont Cenis)
U m es gleich vorwegzunehmen: Ich bin nicht gestorben. Allerdings muss ich eine Weile so dagelegen haben, denn als ich wieder klar wurde, liefen Ameisen über meine verbrannten Unterarme, und der rechte Fuß hing mitten im Gebirgsbach. So etwas ist mir schon häufiger passiert, es war wohl der Kreislauf. Den spektakulärsten Umkipper erlebte ich bei Verwandten im Allgäu. Mein bester Freund Gurke und ich waren zum letzten großen Abenteuer der Menschheit aufgebrochen – wir wollten Skifahren lernen. Die Methode schien jedoch etwas unorthodox. Onkel Michael stellte uns oben auf eine Piste und meinte nur: «Buam, fahrt’s oafach mol runta! Do wird’s euch nix bassiern!» Nun ja, Gurke ist auch nichts «bassiert», Sport-Goofy allerdings schaffte es, sich auf dem Hügel gleich dreimal zu überschlagen. Zurück in der Herberge, zog ich den knallroten Skioverall aus und blickte geschockt auf das blutige Resultat meiner unfreiwilligen Loopings: Ich hatte mir das rechte Knie der Länge nach aufgeschlitzt und konnte bis auf den Knochen sehen. «O Gott, setz dich erst mal», riet mir Gurke. Ich setzte mich und fiel sofort in Ohnmacht. Angeblich soll ich sogar Schaum gespuckt haben. Nach einer Weile ließ sich auch Gurke nieder und verlor ebenfalls das Bewusstsein. Wann Onkel Michael unsere Leichen fand, ist nicht überliefert. Er hat aber wohl unter Schock die ganze Hütte zusammengeschrien. Als ich in Unterhosen auf dem Bett erwachte, standen zehn fremde Leute um mich herum, und irgendjemand nähte mein Knie.
Heute weckt mich John Denver. Er meint, er sei gerade auf der Landstraße in seine Heimat West Virginia unterwegs und wolle mir von den Blue Ridge Mountains und vom Shenandoah River erzählen. Auch Tony Christie meldet sich bei mir und fragt, ob dies hier der Weg nach Amarillo
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