Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Körperwärme zu verlieren und unter keinen Umständen einzuschlafen. Sein Handy stellte er so ein, dass es alle fünfzehn Minuten einen lauten Alarmton abgab. Zwei Tage und zwei Nächte will er so in seinem Eisgefängnis ausgeharrt haben. Erst dann ließ der Schneefall nach, und er wurde schließlich gerettet.
Wenn diese Geschichte nicht wahr sein sollte, hat sie Alberto zumindest gut erfunden. Vor allem aber überbrückt sie sehr viel Zeit. Denn plötzlich, ich kann es gar nicht fassen, sind wir auch schon auf dem Plateau des Mont Cenis. Ganz entspannt, ohne Drama und zu meiner Überraschung ohne Eis und Schnee. Der Pass ist völlig frei und führt an einem riesigen azurblauen Stausee vorbei, eingerahmt von schwarz-weiß gefleckten Gipfeln, die wie schlafende Dalmatiner am Ufer rasten. Es ist absolut still. Man könnte meinen, wir seien direkt auf den Mond gestiegen.
Alberto sagt, der Col du Mont Cenis, der historische Alpenpass, über den Heinrich, die Römer und sogar Napoleon gezogen seien, liege heute unter dem See. Man sei damals möglichst mittig über das Plateau gegangen, um die Lawinengefahr zu minimieren. «Und wusstest du», fragt er mich, «dass auch Hannibal hier langgeritten ist?»
«Nein!»
«Doch!»
Na ja, tatsächlich sind sich die Historiker nicht so ganz einig, über welchen Pass der Karthager mit seiner Armee marschierte. Etwa zwanzig kommen in Frage – einer davon ist der Col du Mont Cenis. Sicher ist jedoch, dass die Hälfte des Heeres, etwa zwanzigtausend Mann, und entgegen der landläufigen Meinung auch alle Kriegselefanten dabei verloren gingen. Bis auf einen.
Signore Bolognesi und ich schaffen es auch ohne Elefanten. Wir laufen zehn Kilometer über eine gut asphaltierte Straße. Einmal düst sogar ein Lieferwagen an uns vorbei, hupt, und Alberto grüßt freundlich zurück: «Ciao, ciao, ciao!» Man kennt sich hier oben. Ich frage mich, warum ich eigentlich so viel Panik geschoben habe. Lag es am Orakel, lag es am Greis, lag es an mir, oder lag es an den Texten des Chronisten? Jeder Geschichtenerzähler übertreibt, so gut er kann, und natürlich sind viele Überlieferungen reine Propaganda. Vielleicht wollte auch Heinrich IV. seinen Gang nach Canossa so dramatisch wie möglich aussehen lassen, um dem Papst, seinen Feinden und der ganzen Welt zu zeigen: «Seht her, welche Qualen euer König auf sich genommen hat!» Aber ich habe gut lachen. Damals, und das ist durch mehrere Quellen belegt, herrschte ein gnadenloser Winter. Jetzt ist Frühling.
Unsere historische Alpenüberquerung wird immer entspannter. Mitten auf dem Hochplateau des todbringenden Mont Cenis gibt es ein kleines Biker-Café. Alberto spendiert mir einen Espresso und eine Tafel Milka-Alpenmilchschokolade. Ich muss lachen. Hier oben gibt es sogar eine pyramidenförmige Kirche und ein Hotel in den ehemaligen Baracken der Staudammarbeiter, im Sommer kann man auf dem Wasser lustig segeln gehen und windsurfen. Es ist verrückt, aber ausgerechnet heute ist wohl der angenehmste und leichteste Wandertag meiner gesamten Reise. Vielleicht, weil ich nicht allein gehe. Vielleicht auch, weil ich mit einem Italiener gehe. Klar, ich bezahle ihn. Aber seine Storys sind jeden Cent wert: «Siehst du das alte Haus da hinten? Da hat meine Nonna gewohnt, meine Großmutter. Als Kind musste ich für sie immer Marlboro-Stangen über die Grenze schmuggeln. Dafür hat sie mir Schokoriegel geschenkt.»
Hinter dem Damm biegen wir von der Straße ab, klettern über eine kleine Mauer und laufen quer über eine Wiese. Plötzlich entdecke ich ein Murmeltier, das aus seinem Erdloch lugt. Es hat sich auf die Hinterbeine gestellt, hält seine kleinen Pfoten vor die Brust und glupscht uns freundlich mümmelnd an. Dann pfeift es wie ein Adler, und auf einmal tauchen drei andere Kollegen aus dem Boden auf. Hallo, Jungs, ihr seid der Grund, warum ich vor zehn Wochen losgezogen bin. Das Leben wird erst lebenswert, wenn man Zeit hat, den Murmeltieren zuzusehen. Auch Alberto wirkt ganz beseelt, allerdings aus einem anderen Grund. «Riechst du es?», fragt er. «Das ist der Duft Italiens!»
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Kapitel 18
Mangia, mangia!
(Novalesa–Turin)
A bbremsen! Abbremsen!», lacht Alberto, während wir die Serpentinen am Südhang des Mont Cenis runterstiefeln. Das drückt auf die Knie, und die Schienbeine fühlen sich so an, als könnten sie jeden Moment brechen. Im Canossa-Winter soll dieser Abhang so vereist gewesen sein, dass Heinrich und
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