Ganoven im Schlosspark
hatte Max Recht und für den Schatten gab es eine ganz harmlose Erklärung.
Auf dem Weg zur Zimmertür fragte Paula: „Ist die Luft rein?“
Max nickte. „Frau Hagedorn schnarcht und bei Papa ist alles ruhig. Ich denke, er schläft.“
„Gut.“ Paula öffnete die Tür und huschte vor Max auf den Flur hinaus. „Bin mal gespannt, welche Neuigkeiten Freiherr von Schlotterfels diesmal für uns hat.“
Max verzog den Mund zu einer Ich-habe-keine-Ahnung-Grimasse.
Die Standuhr schlug zwölf, als Max und Paula die Galerie erreichten. Von unzähligen Ölgemälden blickten ihnen sämtliche Familienmitglieder der Schlotterfelsens entgegen. Paula rutschte das Treppengeländer hinunter, während Max wie immer lieber die Stufen nahm. Paula und Max rannten durch die große Eingangshalle des Schlosses und bogen dann Richtung Museum ab. Sie durchquerten das Chinazimmer mit den wertvollen chinesischen Seidentapeten und den vielen Vasen und gelangten ins Musikzimmer.
Die nächtliche Dunkelheit verschluckte fast vollständig das Deckengemälde der musizierenden Engel, das sich über den Raum wölbte. Das Spinett und die in den Ecken musizierenden Steinengel auf ihren Sockeln waren nur als Umrisse zu erkennen. Aber Paula und Max hatten ihren adligen Freund schon so häufig besucht, dass sie den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden hätten.
Wie ein Schlafwandler erklomm Paula den Sockel des Geige spielenden Steinengels, griff nach dem Bogen und drehte ihn. Er schabte über die Saiten.
Max und Paula hielten den Atem an und lauschten. Da war es wieder – ein kaum hörbares Klacken. Die geheime Tapetentür hatte den Zugang zu Sherlocks verborgenem Zimmer freigegeben.
Ein schmaler Lichtstrahl fiel in das Musikzimmer. Paula sprang vom Steinsockel und trat hinter Max durch die Tür, die sich augenblicklich hinter ihnen schloss.
Kaum standen die beiden in dem von unzähligen Kerzenleuchtern erhellten Raum, packte Sherlock sie mit seinen eisigen Gespensterhänden an den Schultern und schob sie zu dem roten Samtsofa. Als sie sich vorsichtig setzten, wirbelten Staubwölkchen auf.
„Ich habe mit euch zu reden“, verkündete Sherlock, nahm in einem der beiden Samtsessel gegenüber dem Sofa Platz und schlug die Beine vornehm übereinander. Lilly lag neben ihm auf der Armlehne und wedelte bei Max’ und Paulas Anblick mit dem Schwanz. Mit einem Kopfnicken deutete Freiherr von Schlotterfels auf ein dickes, in Leder gebundenes Buch, das auf dem Tisch zwischen ihnen lag. Max und Paula erkannten sofort, dass es die Familienchronik der Freiherren von Schlotterfels war.
„Das ist Ihre Familienchronik“, stellte Paula gelangweilt fest. „Die kennen wir doch schon.“
Sherlock beugte sich mit einem grufttiefen Seufzer vor, nahm das Buch und legte es sich auf den Schoß. Er schlug die Seite auf, in der das Lesebändchen steckte.
„Benedikt Ussenkamp“, sagte er schließlich und betonte dabei jede Silbe.
„Oh, nö, nicht schon wieder …“, protestierte Paula, doch Sherlock brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Mir ist endlich eingefallen, woher ich sein Gesicht kenne. Ich wusste, dass ich es schon mal gesehen habe …“ Freiherr von Schlotterfels reckte das Kinn und las:
„Schloss Schlotterfels im Jahre 1670. Schon wieder ist ein Silberlöffel verschwunden. Die Diebstähle mehren sich. Schmuck meiner lieben Gattin, Sherlocks Taufbecher, Theresias mit Diamanten besetztes Kreuz, der Siegelring derer von Schlotterfels (ein ganz besonders schmerzhafter Verlust) und unzählige wertvolle Kelche hat der Dieb nun schon in seinen Besitz gebracht.
Sherlock, mein geliebter Sohn, hat sich vergeblich bemüht, dem Langfinger eine Falle zu stellen.“
Paula konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Typisch Sherlock! Max verpasste seiner Schwester einen Rippenstoß.
„’tschuldigung!“, presste sie mühsam hervor.
„Du albernes Suppenhuhn!“, kommentierte das Gespenst die Störung und fuhr in seinem Vortrag fort:
„Dennoch ist Sherlock sich ganz sicher, den Dieb zu kennen. Auf sein Anraten hin habe ich heute unseren Diener Heinrich entlassen. Er hat die Diebstähle zwar bestritten, aber die Zeit wird gewiss zeigen, dass Sherlock mit seinem Verdacht Recht hatte. Es schmerzt mich sehr, dass Heinrich gehen musste. Kein anderer Diener konnte so schön ‚Stets zu Ihren Diensten‘ sagen und so eine bodentiefe Verbeugung machen.“
Das Gespenst ließ das Buch sinken.
Max rückte nachdenklich seine Brille zurecht.
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