Ganz die Deine
Angelegenheiten bei eben demselben Reisebüro für ihn erledigte. Außer diesmal, denn diesmal würde er mit Charo verreisen, und davon durfte Alicia nichts erfahren. Alicia nahm die Tickets in Empfang, las die Aufschrift »A. Soria« und glaubte selig, damit sei sie gemeint, Alicia, und nicht etwa ihre Nichte Amparo – auch Charo genannt beziehungsweise »die Deine«, wie Charo immer ihre Briefe unterschrieb. Dabei war Alicia sieben Jahre lang für Ernesto »die Deine« gewesen. Bis ihre Nichte auftauchte. Alicia hatte sie ihm eines Tages selbst vorgestellt, in ihrer Wohnung, und bald darauf waren die beiden ein Paar. Alicia hatte nie etwas davon gemerkt. Ernesto war ein wenig distanzierter geworden, das spürte Alicia, aber sie maß dem keine große Bedeutung bei. Bis zu dem Tag, als sie die Tickets in der Hand hielt. Da mussten sie es ihr sagen. Charo übernahm das. Alicia verpasste ihr eine Ohrfeige und warf sie aus der Wohnung.
Inés sprach weiter, aber Ernesto hörte auch jetzt nicht zu. Er wünschte, sie würde endlich gehen. Sie fragte nach Charo, was sie so mache im Leben. ›Was geht dich das an?‹, dachte Ernesto. Als Antwort sagte er wahrheitsgemäß, sie sei Fotografin und arbeite für eine Zeitschrift. Dabei stellte er sich vor, wie er auf der Suche nach Charo im Nachtleben unterwegs war. So kam Charo für gewöhnlich zu ihren Aufnahmen: Sie zog von einem Club zum anderen und versuchte, Prominente vor die Linse zu bekommen. Er stellte sie sich irgendwo an einer Theke stehend vor. Ihr großzügig geschnittenes Oberteil gab den Blick auf die Träger ihres Mieders frei. Ein weißes Mieder. Nein, besser noch: schwarz. Vor ihr auf der Theke stand ein Drink. Fast berührte er sie – aber da stand Inés auf, um zu gehen. Er begleitete sie zum Lift, wartete aber nicht, bis er da war. Er ging in sein Büro zurück und rief Charo an. Es nahm niemand ab. Er versuchte es noch einmal. Sie hatte ihr Handy offenbar abgestellt. Da machte er sich auf die Suche nach ihr. Er klapperte mehrere Bars ab und fand sie schließlich in einem neuen Lokal unter der Eisenbahnbrücke. Bei seinem Anblick verzog Charo ärgerlich das Gesicht. Ernesto wusste genau, worauf er sich einließ. Charo wollte nicht, dass sie in der Öffentlichkeit zusammen gesehen wurden, das war zu gefährlich. Aber ihm war es egal. Er wollte sie berühren, sie spüren. Er hielt ihrem Blick stand. Sie unterhielt sich gerade mit jemandem an der Theke. Ernesto ging langsam auf sie zu. Charo verabschiedete sich von ihrem Gesprächspartner, nahm die Kamera und gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, dass er ihr folgen solle. Sie bahnte sich einen Weg durch die dicht gedrängt stehenden Besucher des Lokals. Es war laut dort drinnen und verraucht. Ernesto dachte schon, er habe sie aus den Augen verloren, aber da sah er, wie sie durch einen Seitenausgang schlüpfte. Er ging hinterher und stand plötzlich in einem Lagerraum, wo Getränke und andere Vorräte aufbewahrt wurden. Von Charo keine Spur. Er ging ein paar Schritte weiter. Plötzlich kam Charo hinter einem großen Kühlschrank hervor und verstellte ihm den Weg. »Sag mal, hast du sie noch alle?«, fuhr sie ihn an. Worauf Ernesto sie wortlos an die Wand drückte und gierig küsste und betatschte. Es konnte ihm gar nicht schnell genug gehen. Charo wehrte sich und sagte, er sei wohl verrückt geworden. Aber für Ernesto gab es kein Halten mehr. Charo wehrte sich immer noch, aber er gab nicht auf. Bis sie alle Gegenwehr einstellte.
Morgens um zwei kam Ernesto nach Hause. Inés hatte ihm das Essen bereitgestellt. Daneben ein Kerzenständer und ein Zettel: »Weck mich, wenn du da bist«. Darunter hatte sie ein Herz gemalt. Ernesto erschrak. Seine Frau wollte offensichtlich mit ihm schlafen, wozu er nicht die geringste Lust verspürte, erst recht nicht, nachdem er gerade mit Charo zusammen gewesen war.
Ernesto wusste genau, was jetzt folgen würde – sie waren schon seit so vielen Jahren verheiratet. »Schläfst du, Erni?« – »Nein.« – »Willst du zu mir kommen?« – »Na gut.« Er würde sich auf sie legen, anfangen, irgendwann fertig sein, einschlafen. Und währenddessen würde Inés laute Seufzer von sich geben, einer so gekünstelt und falsch wie der andere.
Ernesto machte das Licht in der Küche aus und schlich nach oben. Er warf einen Blick in Lalis Zimmer, ging hinein und betrachtete sie. Bei dem Gedanken, dass sie schon bald auf Klassenreise gehen werde, versetzte es ihm einen Stich. Es ließ
Weitere Kostenlose Bücher