Garou
Bäume.
Ziegen schon. Wenn das Winterlamm groß war, wollte es eine Ziege werden.
»Du wirst nie groß«, hatten die anderen Schafe gesagt, und tatsächlich war das Winterlamm kleiner und kurzbeiniger als alle anderen. Es hatte nur winzige, spitze Hörnchen, und es hatte noch immer keinen Namen.
»Komm zurück!«, blökte es von unten.
Von mittlerweile ziemlich weit unten. Das Winterlamm hörte nicht hin. Die Freiheit des Dichters war ein Ziegenort!
Schmaler und steiler, schiefer und schräger wurde der Stamm der alten Eiche. Unten war die Weide, weiß und flach, dahinter der Wald, ein Geheimnis, dunkel und bewegt wie das Meer. Gab es Fische im Wald? Über ihm, auf einem haarfeinen Zweig saß ein rotes Eichhorn und guckte verblüfft. Das Winterlamm zögerte. Was nun? Es war jetzt vielleicht kein Schaf mehr, aber ein Eichhorn war es auch nicht. Einige Schritte vor ihm spaltete sich der Stamm der Eiche, und an der Gabelung wuchs ein dünner Ast direkt aus dem Stamm. Ein Ast mit kleinen, rötlichen Knospen.
Das Winterlamm stakste los. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Das Eichhorn flüchtete sich auf einen höheren Ast. Ein Schritt. Der Stamm schwankte. Zwei, drei. Das Winterlamm machte den Hals lang und biss zu.
»Es frisst etwas!«, blökte es von unten.
Das Winterlamm kaute genüsslich den kommenden Sommer, der in den Knospen schlief, süß und bitter zugleich, kaute und kaute.
Es hatte den Winter besiegt.
»Heathcliff«, dachte das Winterlamm. »Ich heiße Heathcliff.«
Es stimmte ein triumphierendes, möglichst meckerndes Blöken an, weit über die Weide, bis zum Schloss, sogar bis in den Wald hinein.
Dann war es auf einmal still, ganz still, und starrte mit weiten Augen zum Wald.
Starrte und starrte.
Ein Windstoß schüttelte die Zweige der alten Eiche. Schnee und ein paar tote Blätter wehten auf die Schafe herab, und das Winterlamm fiel, nicht wie ein Blatt, eher wie ein Stein, brach durch dürres Gezweig und landete mit einem überraschend saftigen Geräusch auf dem gefrorenen Boden.
Die Schafe schwiegen entsetzt. Das rote Eichhorn hoch oben in den Zweigen keckerte.
Das Winterlamm lag unbeweglich da und sah seltsam aus. Nicht wie ein Schaf, eher wie ein Haufen zottige, fasrige Wolle.
Dann bewegte es sich, vorsichtig, erst die Hinterbeine, dann die Vorderbeine, bis es schließlich wieder stand, zitternd, klein und krumm wie eh und je.
Die anderen Schafe beruhigten sich. Schafe klettern nicht auf Bäume, und wenn doch, dann fielen sie eben wieder herunter. Sie hatten es ja gleich gesagt.
Nur Miss Maple trabte neugierig näher an das Winterlamm heran.
»Du hast etwas gesehen, nicht wahr? Du hast etwas im Wald gesehen!«
»Einen Menschen«, sagte Heathcliff. »Einen Menschen oben in den Bäumen!«
»Da ist Madouc!«, blökte Heide plötzlich.
Die Schafe starrten aus dem Auto hinaus auf die Straße, die sich in schwindelerregendem Tempo unter ihnen ausrollte. Kein Zweifel: dort, klein, schwarz und entschlossen, galoppierte Madouc. Galoppierte wie der Wind.
Sie hatten sich gerade ein wenig an das Autofahren gewöhnt. Solange man nicht nach vorne dachte und nicht zurückdachte, und schon gar nicht an die Herde dachte, die irgendwo weit weg ahnungslos graste, war es gar nicht so schlimm. Mit etwas Fantasie konnte man sich vorstellen, in einer besonders dunklen und zugigen Ecke des Heuschuppens zu stehen. Dann krachte die flache Schweifklappe des Autos nach unten, und das Schleifen und Scheppern verjagte alle Heuschuppenillusionen im Nu. Dafür war das Auto nun langsamer geworden.
Und jetzt raste auf einmal Madouc hinter ihnen her.
»Ich glaube, sie will mit!«, sagte Heide.
Die Schafe sahen zu, wie sich Madouc Stück für Stück näher an das Auto herankämpfte, Schaum vor dem Mund und ein irres Glitzern in den Augen. Bald war sie so nah, dass Maude sie sogar gegen den Wind riechen konnte.
Es war spannend.
»Spring!«, blökten die Schafe. »Spring, Madouc!«
Madouc sprang, und weil das Auto in diesem Moment noch ein wenig langsamer wurde, stand sie auf einmal neben den Schafen auf der Ladefläche und sah selbst ein wenig überrascht aus.
Etwas knackte im Wald.
Zora sah Madouc an, die mit zitternden Beinen neben ihnen im Stroh stand.
»War das der Garou?«, fragte sie.
Aber Madouc antwortete nicht. Sie sah zu, wie ihr schwarzes Geisterzicklein hinter ihnen durch den Schnee galoppierte - der Fuchs musste es irgendwann wieder ausgespuckt haben - und sich schließlich mit einem
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