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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ihren Gedanken weit fort, oder sie hatte es einfach
nicht gehört. Oder sie dachte ohnehin schon an Michael Milton, und als Garp
seinen Namen aussprach, merkte sie es gar nicht, weil sie ihn bereits innerlich
wie ein Mantra vor sich hin sagte.
    Michael Milton, ein
graduierter Student und im dritten Jahr Komparatistik, hatte in Yale als
Hauptfach Französisch studiert und ein mittelmäßiges Examen gemacht; davor
hatte er die Steering School absolviert – aber er spielte seine Internatsjahre
gern herunter. Sobald er wusste, dass man wusste,
dass er in Yale studiert hatte, spielte er auch das herunter.
    Nur seine beiden Auslandssemester
in Frankreich spielte er nie herunter. Wenn man Michael Milton hörte, wäre man
nie auf den Gedanken gekommen, dass er nur ein Jahr in Europa gewesen war – er
brachte es fertig, den Eindruck zu erwecken, er habe sein ganzes junges Leben
in Frankreich verbracht. Er war fünfundzwanzig.
    Obwohl er nur so kurz in Europa
gelebt hatte, schien er sich dort für sein ganzes zukünftiges Leben
ausstaffiert zu haben: die Tweedsakkos hatten breite Revers und leicht
auslaufende Ärmel, und Sakkos wie Hosen waren körpernah und auf Taille
geschnitten; selbst zu Garps Steering-School-Zeiten hätten die Amerikaner
Michaels Kleidung als »kontinental« bezeichnet. Die Kragen seiner Hemden, die
er am Hals immer offen trug (immer mit zwei nicht
zugeknöpften Knöpfen), waren weich und weit, wie auf [427]  gewissen
Renaissance-Porträts, und verrieten gleichzeitig Nonchalance und äußersten
Perfektionismus.
    Er unterschied sich von Garp, wie
ein Vogel Strauß sich von einer Robbe unterscheidet. Angezogen machte Michael
Milton eine elegante Figur; wenn man ihn jedoch nackt dastehen sah, musste man
unwillkürlich an ein Tier denken, am ehesten an einen Reiher. Er war dünn und
groß, und er hielt sich schlecht, was seine maßgeschneiderten Tweedsakkos
kaschierten. Sein Körper war wie ein Kleiderbügel – ideal, um Kleidung
daranzuhängen. Ausgezogen hatte er gleichsam gar keinen Körper.
    Er war in fast jeder Beziehung
Garps genaues Gegenteil, mit Ausnahme des beiden gemeinsamen enormen
Selbstvertrauens – man kann auch sagen: der Arroganz, je nach Wertung. Wie Garp
war Michael auf eine Weise aggressiv, wie nur jemand sein kann, der voll und
ganz an sich glaubt. Sein Selbstvertrauen und seine Aggressivität – das waren
die Eigenschaften gewesen, die sie an Garp auf Anhieb attraktiv gefunden hatte.
    Und jetzt begegneten sie ihr
wieder, in neuem Gewand – in völlig anderer Form zwar, aber Helen erkannte sie
doch wieder. In der Regel fand sie junge, dandyhaft gekleidete Männer überhaupt
nicht attraktiv, zumal mit dem entsprechenden weltmüden, weltweisen Getue eines
melancholischen Europäers, der in Wirklichkeit den größten Teil seines kurzen
Lebens auf den Rücksitzen von Limousinen in Connecticut zugebracht hat. Doch in
ihrer Jugend hatte Helen sich in der Regel auch nicht
zu Ringern hingezogen gefühlt. Helen mochte selbstsichere Männer, sofern das
Selbstvertrauen nicht völlig unangebracht war.
    [428]  Was Michael Milton zu Helen
hinzog, war das, was viele Männer und einige Frauen zu ihr hinzog. Sie war eine
höchst attraktive dreißigjährige Frau, und das war sie deshalb, weil sie nicht
nur schön, sondern zum Verlieben schön war. Es sah nicht nur so aus, als habe
sie gut auf sich geachtet, sondern auch, als hätte sie allen Grund dazu gehabt,
und das ist ein nicht unwesentlicher Unterschied. Das bezaubernde,
vielversprechende Äußere war in Helens Fall nicht irreführend: sie war eine
sehr erfolgreiche Frau. Sie sah aus, als hätte sie ihr Leben so fest im Griff,
dass nur äußerst selbstbewusste Männer nicht den Blick senkten, wenn sie ihren
Blick erwiderte. Selbst an der Bushaltestelle wagten die anderen sie nur so
lange anzustarren, bis sie zurückstarrte.
    In den Fluren der englischen
Abteilung war dieses Starren eher unüblich; alle blickten ihr nach, aber nur
verstohlen. Deshalb traf sie der lange, ungenierte Blick, den ihr Michael
Milton eines Tages zuwarf, völlig unvorbereitet. Der junge Mann blieb einfach
im Flur stehen und gaffte sie an, während sie auf ihn zukam. Es war übrigens
Helen, die zuerst den Blick abwandte; Michael dagegen drehte sich um und sah
ihr nach, wie sie durch den Flur davonging. Und dann sagte er zu einem neben
ihm stehenden Kommilitonen, und zwar laut genug, dass Helen es hören konnte:
»Unterrichtet sie hier, oder studiert sie hier? Was macht

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