Garp und wie er die Welt sah
schlug Garp halbherzig vor.
»Warum kommst du nicht ein paar Tage zu uns, und wir toben uns richtig aus?«
Helen stieß ihn an, runzelte die Stirn und biss ihn in die Brustwarze. Sie mochte
Roberta, aber seit ihrer kürzlichen Geschlechtsumwandlung konnte Roberta nur
noch von sich reden.
»Ich fühle mich so ausgelaugt «, sagte Roberta. »Keine Energie, nichts. Ich
weiß nicht mal, ob ich noch spielen könnte.«
»Du könntest es wenigstens versuchen, Roberta«, schlug Garp vor. »Gib dir einen
Ruck.« Helen rollte sich ärgerlich von Garp weg.
Aber Helen war immer sehr lieb zu
Garp, wenn er bei solchen nächtlichen Anrufen ans Telefon ging: Die Anrufe
machten ihr Angst, sagte sie, und sie wolle nicht als Erste erfahren, worum es
bei den Anrufen ging. Deshalb war es seltsam, dass einige Wochen später, als
Roberta Muldoon zum zweiten Mal anrief, Helen den Hörer abnahm – umso mehr, als
das Telefon auf Garps Bettseite stand und Helen über ihn hinweglangen musste,
um den Hörer abzunehmen. Sie hechtete förmlich hinüber und flüsterte nervös in [424] den
Hörer: »Ja, was ist?« Als sie jedoch hörte, dass Roberta dran war, gab sie den
Hörer schnell an Garp weiter; es war also nicht, als habe sie versucht, ihn
schlafen zu lassen.
Und als Roberta zum dritten Mal
anrief, fühlte Garp, dass etwas fehlte, als er den Hörer abnahm. »Hallo,
Roberta, wie geht’s?«, sagte Garp. Was fehlte, war die Umklammerung seines
Beins. Und Helen war ebenfalls nicht da, stellte er
fest. Er redete beruhigend auf Roberta ein, fühlte zur erkalteten Betthälfte
hinüber und stellte bei einem Blick auf die Uhr fest, dass es zwei war –
Robertas Lieblingszeit. Als Roberta endlich auflegte, ging Garp nach unten, um
Helen zu suchen. Er fand sie allein im Wohnzimmer auf dem Sofa, wo sie mit
einem Glas Wein über einem Manuskript brütete.
»Ich konnte nicht schlafen«,
sagte sie, aber in ihrem Gesicht war ein Ausdruck, den Garp nicht sofort
einordnen konnte. Den Ausdruck an sich kannte er schon, nur nicht an Helen.
»Korrigierst du Arbeiten?«,
fragte er. Sie nickte, aber vor ihr lag nur ein Manuskript. Garp nahm es.
»Es ist nur von einem Studenten«,
sagte sie und griff danach. Der Student hieß Michael Milton. Garp las einen
Abschnitt des Referats. »Klingt wie eine Kurzgeschichte«, sagte Garp. »Ich
wusste gar nicht, dass du deine Studenten Kurzgeschichten schreiben lässt.«
»Tue ich auch nicht«, sagte
Helen, »aber manchmal zeigen sie mir trotzdem, was sie so schreiben.«
Garp las noch einen Abschnitt. Er
fand den Stil bemüht, gezwungen, aber es waren keine Fehler auf der Seite; der
Student schrieb zumindest korrektes Englisch.
[425] »Es ist einer von meinen
graduierten Studenten«, sagte Helen. »Er ist sehr gescheit, nur…« Sie zuckte
mit den Schultern, aber ihre Geste hatte etwas von der gespielten Harmlosigkeit
eines verlegenen Kindes.
»Nur was?«, sagte Garp. Er lachte – dass Helen selbst mitten in der Nacht so mädchenhaft aussehen konnte.
Aber Helen nahm die Brille ab und
zeigte ihm wieder jenen anderen Ausdruck, den Ausdruck,
den er zuerst bemerkt und nicht richtig hatte einordnen können. Hastig sagte
sie: »Oh, ich weiß nicht. Vielleicht jung. Er ist
einfach sehr jung, verstehst du? Sehr gescheit, aber jung.«
Garp blätterte eine Seite weiter,
las noch einen halben Absatz und gab ihr dann das Manuskript mit einem
Schulterzucken zurück. »Scheiße, wenn du mich fragst«, sagte er.
»Nein, das stimmt nicht«, sagte
Helen ernst. Oh, ganz die kluge Lehrerin, dachte Garp und verkündete, er werde
jetzt wieder ins Bett gehen. »Ich komme auch gleich«, sagte Helen.
Oben im Badezimmerspiegel
identifizierte er dann den merkwürdig deplatzierten Ausdruck, den er in Helens
Gesicht gesehen hatte. Er erkannte ihn, weil er ihn schon öfter gesehen hatte –
in seinem eigenen Gesicht, jedoch noch nie bei Helen. Es war ein schuldbewusster Ausdruck , und das
verwirrte Garp. Er lag noch lange wach, aber Helen kam nicht ins Bett. Am
nächsten Morgen wunderte sich Garp darüber, dass ihm als Erstes der Name
Michael Milton in den Sinn kam, obwohl er nur einen kurzen Blick in das
Manuskript des graduierten Studenten geworfen hatte. Vorsichtig linste er zu
Helen hinüber, die jetzt wach neben ihm lag.
»Michael Milton«, sagte Garp
langsam, nicht zu ihr, aber [426] laut genug, dass sie es hören konnte. Er
beobachtete sie genau, doch sie verzog keine Miene. Entweder träumte sie mit
offenen Augen und war mit
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