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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gleichzeitig ihre Schraubenschlüssel
und Flachzangen fallen ließen, aus den Gruben kletterten und herbeieilten, um
einige kurze, berauschende Minuten lang den breiten Vordersitz des engen, von
Ersatzteilen scheppernden Lieferwagens mit der grazilen Frau Professor zu
teilen und diese zur Arbeit zu fahren.
    Garp wies Helen darauf hin, dass,
wenn er den Volvo in die Werkstatt brachte, er oft
eine Stunde lang in der Werkstatt warten und schließlich irgendeinen Schnösel
fast nötigen musste, ihn nach Hause zu fahren. Da dann jedes Mal sein ganzes
Vormittagspensum liegenbleibe, habe er entschieden, Helen müsse sich um den
Volvo kümmern.
    Die Sache mit dem Knauf des
Schalthebels hatten sie beide verschlampt. »Du brauchst doch bloß anzurufen und
einen neuen zu bestellen«, hatte Helen immer wieder gesagt. »Ich fahre dann hin
und lasse ihn gleich aufschrauben, während ich warte. Aber ich möchte den Wagen
nicht einen ganzen Tag dort lassen, nur damit die dann irgendeinen Pfusch
machen.« Dann hatte sie ihm den Knauf zugeworfen, worauf er ihn zum Wagen
gebracht und mit Klebestreifen mehr schlecht als recht wieder am Schaft
befestigt hatte.
    [435]  Aus irgendeinem Grund, dachte
sie, fiel der Knauf immer nur dann ab, wenn sie fuhr;
allerdings fuhr sie auch öfter als er.
    »Scheiße«, sagte sie und fuhr mit
dem nackten, hässlichen Schalthebelschaft (ohne Knauf) weiter. Bei jedem
Schalten scheuerte der Schalthebelschaft aufs Neue, bis ihre aufgeschürfte
Handfläche auf ihren sauberen Kostümrock blutete. Sie stellte das Auto ab und
nahm den Schaltknauf mit, als sie über den Parkplatz auf das Englische Seminar
zuging. Zuerst wollte sie ihn in einen Gully werfen, aber er hatte kleine
aufgedruckte Zahlen, somit konnte sie von ihrem Büro aus die Werkstatt anrufen,
die kleinen Zahlen durchgeben und den Knauf dann fortwerfen – oder (warum nicht?) Garp mit der Post schicken.
    In dieser Stimmung, von
Alltagssorgen geplagt, traf Helen den blasierten jungen Mann. Er lehnte lässig
neben der Tür ihres Arbeitszimmers, die beiden oberen Knöpfe seines hübschen
Hemdes wie immer offen. Die Schultern seines Tweedsakkos waren, wie sie
bemerkte, leicht wattiert, seine Haare etwas zu dünn und zu lang, und das eine
Ende seines bleistiftdünnen Schnurrbarts hing am Mundwinkel ein bisschen zu
weit hinunter. Sie war sich nicht sicher, ob sie diesen jungen Mann lieben oder hätscheln wollte.
    »Sie sind aber früh auf«, sagte
sie und reichte ihm den Schalthebelknauf, damit sie die Tür ihres Zimmers
aufschließen konnte.
    »Haben Sie sich verletzt?«,
fragte er. »Sie bluten ja.« Helen dachte später, dass es so war, als hätte er
eine Nase für Blut, denn der kleine Kratzer an ihrer Handfläche blutete schon
fast nicht mehr.
    [436]  »Studieren Sie auch Medizin?«,
fragte sie ihn.
    »Das wollte ich«, sagte er.
    »Und was hat Sie davon
abgebracht?«, fragte sie, immer noch, ohne ihn anzusehen. Sie trat hinter den
Schreibtisch, wo sie geraderückte, was bereits gerade lag, und die Jalousien
verstellte, obwohl sie bereits richtig eingestellt waren. Sie nahm die Brille
ab, so dass er ganz weich und verschwommen wirkte, als sie ihn jetzt ansah.
    »Organische Chemie«, sagte er.
»Ich hab das Studium sausenlassen. Außerdem wollte ich in Frankreich leben.«
    »Oh, Sie haben in Frankreich
gelebt?«, fragte Helen. Sie wusste, dass er diese Frage erwartete und dass dies
zu den Dingen gehörte, in denen er sich für etwas Besonderes hielt. Er ließ es
bei jeder Gelegenheit einfließen und hatte sogar in dem Fragebogen darauf
hingewiesen. Er war sehr oberflächlich, das merkte
sie sofort; zwar hoffte sie, er sei trotzdem einigermaßen intelligent, aber
gleichzeitig fühlte sie sich durch seine Oberflächlichkeit seltsam erleichtert – als ob ihn das für sie weniger gefährlich machte und ihr etwas mehr Spielraum
verschaffte.
    Sie sprachen über Frankreich, was
Helen lustig fand, weil sie ebenso gut darüber Bescheid wusste wie Michael
Milton, obwohl sie nie in Europa gewesen war. Sie erklärte ihm auch, er habe
ihrer Meinung nach keinen ausreichenden Grund, an ihrem Seminar teilzunehmen.
    »Keinen ausreichenden Grund?«,
drängte er sie lächelnd.
    »Erstens«, sagte Helen, »ist es
eine völlig unrealistische Erwartung, die Sie damit verknüpfen.«
    »Oh, dann haben Sie bereits einen
Liebhaber?«, fragte Michael Milton sie immer noch lächelnd.
    [437]  Irgendwie war er so frivol,
dass er sie nicht beleidigte; sie schnauzte ihn nicht

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