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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie hier überhaupt?«, fragte Michael Milton.
    Im zweiten Semester dieses Jahres
gab Helen ein Graduiertenseminar über Erzählperspektive, zu dem auch einige
wenige fortgeschrittene Nichtgraduierte zugelassen waren. Helen interessierte
sich für die Entwicklung und [429]  Verfeinerung der Erzähltechnik im modernen
Roman, unter besonderer Berücksichtigung der Erzählperspektive. Der älter
wirkende Student mit dem dünnen, hellen Schnurrbart und dem hübschen offenen
Hemd war ihr schon in der ersten Stunde aufgefallen; doch sie hatte den Blick
von ihm abgewandt und weiter ihren Fragebogen verteilt. Dieser enthielt unter
anderem die Frage, warum die Studenten sich speziell für dieses Seminar
interessierten. Ein Student namens Michael Milton schrieb als Antwort: »Weil
ich, seit ich Sie das erste Mal sah, Ihr Liebhaber werden wollte.«
    Als Helen nach dem Seminar allein
in ihrem Büro saß und die Fragebogen auswertete, glaubte sie zu wissen, welcher
der Seminarteilnehmer Michael Milton war; wenn sie hinter dieser Antwort jemand
anders vermutet hätte, irgendeinen Jungen, der ihr nicht weiter aufgefallen
war, hätte sie Garp den Fragebogen gezeigt. Und Garp hätte dann vielleicht
gesagt: »Zeig mir das Arschgesicht!« Oder: »Der wäre was für Roberta Muldoon.«
Und dann hätten sie beide gelacht, und Garp hätte sie damit aufgezogen, dass
sie ihre Studenten aufgeile. Wenn Helen es Garp gesagt hätte, wäre der Junge
bei ihr chancenlos gewesen und hätte seine Absichten nie verwirklichen können.
Und Helen wusste das auch. Helen fühlte sich bereits schuldbewusst, als sie
Garp den Fragebogen vorenthielt – doch sie dachte, wenn Michael Milton der war,
für den sie ihn hielt, würde sie das Ganze sich gern ein bisschen entwickeln lassen.
In diesem Augenblick, in ihrem Büro, sah Helen wirklich nicht voraus, dass es
sich mehr als nur ein bisschen entwickeln würde. Was wäre an einem bisschen
schon Schlimmes gewesen?
    [430]  Wäre Harrison Fletcher noch
ihr Kollege gewesen, hätte sie ihm den Fragebogen
gezeigt. Mit ihm hätte sie garantiert über den Fall gesprochen, egal, wer
hinter dem Namen Michael Milton stecken mochte, und selbst wenn er sich als
dieser erschreckend gutaussehende Junge entpuppen sollte. Harrison und Helen
hatten immer wieder solche Geheimnisse gehabt, von denen sie Garp und Alice
nichts sagten; aber es waren harmlose Geheimnisse gewesen. Hätte sie Harrison
erzählt, dass Michael Milton sich für sie interessierte, wäre das ein weiteres
Mittel gewesen, die Verwirklichung von Michaels Absichten zu vereiteln.
    Aber sie sagte Garp kein Wort von
Michael Milton, und Harrison war fortgegangen, um sich anderswo einen festen
Lehrauftrag zu suchen. Der Fragebogen war mit einer schwarzen,
altmodisch-schnörkeligen Schönschrift ausgefüllt und eindeutig mit einer
Spezialfeder geschrieben. Michael Miltons handgeschriebene Botschaft war
gestochen scharf und wirkte beständiger, als es jeder gedruckte Text gewesen
wäre, und Helen las sie immer wieder. Sie merkte sich auch die anderen
Antworten auf dem Fragebogen: Geburtsdatum, Studienjahr und welche Seminare er
bisher in Anglistik oder Komparatistik besucht hatte. Sie prüfte seine
Karteikarte; seine Noten waren gut. Sie rief zwei Kollegen an, die Michael
Milton im letzten Semester in ihren Seminaren gehabt hatten, und entnahm ihren
Äußerungen, dass Michael Milton ein guter Student war, aggressiv und von an
Eitelkeit grenzendem Stolz. Sie sagten es nicht wörtlich, aber bei beiden hörte
sie heraus, dass Michael begabt und unsympathisch war. Sie dachte an die beiden
bewusst nicht zugeknöpften oberen Hemdknöpfe [431]  (inzwischen war sie sicher, dass die Antwort von dem Besitzer dieses Hemdes
stammte), und sie stellte sich vor, wie sie sie zuknöpfte. Sie dachte an den
dunklen Flaum auf seiner Oberlippe, der nur knapp als Schnurrbart durchgehen
konnte. Garp würde Michael Miltons Oberlippenbart später mit den Worten
kommentieren, Oberlippe wie Bart seien mickrig und in Bezug auf anderer Leute
Haar und Lippen geradezu ein Affront. Garp fand ihn eine so billige Kopie eines
Schnurrbarts, dass Michael Milton seinem Gesicht einen Gefallen tun würde, wenn
er ihn abrasierte.
    Helen dagegen gefiel der
merkwürdige kleine Schnurrbart auf Michael Miltons Oberlippe.
    »Du magst eben grundsätzlich
keine Schnurrbärte«, sagte sie zu Garp.
    »Ich mag diesen Schnurrbart nicht«, sagte er. »Gegen Schnurrbärte an sich hab ich
nichts«, versicherte er, obwohl

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