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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Sportkamerad, der ihm
in Jennys Augen ebenfalls das Mitleid versagt hatte, ließ Carlisles Kopfschutz
mit dem Rest von Carlisles Erbrochenem zu Boden fallen; dann folgte er Carlisle
zu den Spinden. Jenny hoffte, dass er sich umziehen würde.
    Sie sah auf die offene Tür des
Ringerraums, holte tief Luft und ging hinein. Sofort meinte sie das
Gleichgewicht zu verlieren. Unter den Füßen hatte sie ein weiches, [111]  fleischiges
Gefühl, und die Wand gab bei ihrer Berührung nach, als sie sich dagegenlehnte;
sie war in einer gepolsterten Zelle mit warmen weichen Matten auf dem Boden und
an den Wänden, mit einer Luft, die zum Ersticken heiß war und nach Schweiß
stank, so dass sie kaum zu atmen wagte.
    »Tür zu!«, sagte die Tenorstimme
des Mannes – denn Ringkämpfer, das erfuhr Jenny später, lieben die Hitze und ihren Schweiß, besonders wenn sie abnehmen wollen,
und sie blühen auf, wenn Wände und Fußboden so heiß
und weich sind wie die Gesäßbacken schlafender Mädchen.
    Jenny schloss die Tür. Sogar die
Tür war mit einer Matte gepolstert, und sie ließ sich mit dem Gedanken
dagegensinken, irgendjemand könnte die Tür von außen öffnen und sie
barmherzigerweise freilassen. Der Mann mit der Tenorstimme war der Trainer, und
Jenny sah durch die flimmernde Hitze, wie er an der Wand des langen Raumes
entlangschritt – denn er konnte nicht stillstehen, während er seine kämpfenden
Ringer mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. »Noch dreißig Sekunden!«,
schrie er sie an. Die Paare auf den Matten zuckten wie unter einem elektrischen
Schlag zusammen. Die Zweiergruppen im Ringerraum hatten sich zu unentwirrbaren
brutalen Knäueln verfilzt, und die Ringer mühten sich in Jennys Augen so
hektisch und verzweifelt ab wie bei einer Vergewaltigung.
    »Noch
fünfzehn Sekunden!«, schrie der Trainer. »Beeilung!«
    Das verschlungene Paar, das Jenny
am nächsten war, trennte sich plötzlich, die verknoteten Gliedmaßen befreiten
sich, die Adern auf den Armen und Hälsen pochten. Aus dem Mund des einen Jungen
kam ein atemloser Schrei [112]  und ein Speichelfaden, als sein Gegner sich von ihm
löste und sie beide dumpf gegen die gepolsterte Wand prallten.
    »Die Zeit ist um!«, schrie der
Trainer. Er benutzte keine Pfeife. Die Ringer erschlafften unvermittelt und
lösten sich im Zeitlupentempo voneinander. Ein halbes Dutzend von ihnen
taumelte jetzt auf Jenny und die Tür zu; sie dachten an den Trinkbrunnen und an
frische Luft, doch Jenny nahm an, sie wollten hinaus auf den Gang, um sich zu
übergeben oder in Ruhe zu bluten – oder beides.
    Jenny und der Trainer waren die
einzigen stehenden Gestalten, die im Ringerraum zurückblieben. Jenny stellte fest,
dass der Trainer ein adretter kleiner Mann war, gedrungen wie eine Sprungfeder;
sie stellte außerdem fest, dass er fast blind war, denn nun schaute er mit
zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung und erkannte, dass diese weiße
Gestalt und ihre Konturen nicht zu dem Ringerraum gehörten. Er tastete nach
seiner Brille, die er gewöhnlich auf den Mattenrand an der Wand legte, etwa in
Kopfhöhe – wo sie nicht so leicht von einem gegen die Wand geschleuderten
Ringer zerbrochen werden konnte. Jenny stellte fest, dass der Trainer ungefähr
in ihrem Alter war und dass sie ihn noch nie auf dem Campus von Steering oder
sonst aus der Nähe gesehen hatte – weder mit noch ohne Brille.
    Der Trainer war neu in Steering.
Er hieß Ernie Holm, und bisher hatte er die Leute von Steering genauso
eingebildet gefunden wie Jenny auch. Ernie Holm hatte an der University of Iowa
zweimal zu den zehn landesbesten Ringern gehört, aber er hatte nie einen
länderübergreifenden Titel gewonnen, und er hatte fünfzehn Jahre lang an [113]  Highschools
überall in Iowa als Trainer gearbeitet und dabei versucht, sein einziges Kind,
eine Tochter, allein großzuziehen. Er hatte vom Mittleren Westen die Schnauze
voll, wie er zu sagen pflegte, und er war an die Ostküste gekommen, um seiner
Tochter eine Klasseausbildung zu garantieren, wie er ebenfalls zu sagen
pflegte. Sie war der Grips der Familie, wie er gern sagte – und sie hatte das
gute Aussehen ihrer Mutter, die er nie erwähnte.
    Die fünfzehnjährige Helen Holm
hatte ihr bisheriges Leben lang jeden Nachmittag drei Stunden in Ringerräumen
von Iowa bis Steering gesessen und zugesehen, wie Jungen jeder Größe schwitzten
und sich gegenseitig herumschleuderten. Helen sollte Jahre später bemerken,
dass ihre Kindheit als einziges

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