Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
dachte Jenny – [108]  mit
bezeichnender Geringschätzung –, hatte Miles Seabrook eine Glatze gehabt.
    Jenny ärgerte sich über die
Haltung, die stillschweigend mit den in der staubigen Vitrine liegenden Dingen
verehrt wurde. Der Krieger-Athlet, der lediglich die Uniform wechselte. Die
Polster täuschten einen Schutz jedoch nur vor: Als Schulschwester der Steering
School hatte Jenny fünfzehn Jahre lang Football- und Eishockeyverletzungen
gesehen – trotz aller Helme, Masken, Riemen, Schnallen, Scharniere und Polster.
Und Sergeant Garp und all die anderen hatten Jenny gezeigt, dass Männer im
Krieg einen besonders illusorischen Schutz hatten.
    Verdrossen ging Jenny weiter; als
sie an den Vitrinen vorbeischritt, hatte sie das Gefühl, dass sie sich dem
Motor einer gefährlichen Maschine näherte. Sie mied die arenagroßen offenen
Räume in der Halle, wo sie das kämpferische Geschrei und Gegrunze hörte. Sie
suchte die dunklen Flure, wo sie die Büros vermutete. Habe ich fünfzehn Jahre
gewartet, dachte sie, um mein Kind daran zu
verlieren?
    Sie erkannte einen Teil des
Geruchs. Desinfektionsmittel. Jahre mühsamen Scheuerns. Kein Zweifel, in einer
Turnhalle lauerten äußerst gefährliche Keime auf ihre Chance. Dieser Teil des
Geruchs erinnerte sie an Kliniken und an die Krankenstation – abgestandene,
postoperative Luft. Doch hier, in dem riesigen, zum Andenken an Miles Seabrook
errichteten Gebäude, herrschte noch ein anderer Geruch, der ihr so widerwärtig war wie der Geruch von Sex. Die Turnhalle und
die Sportanlagen waren 1919 erbaut worden, knapp ein Jahr vor ihrer Geburt: Was
Jenny roch, waren fast vierzig Jahre herausgepresstes Furzen und [109]  Schwitzen
von Jungen, die unter Stress und Anspannung standen. Was Jenny roch, war Wettkampf, wild und voller Enttäuschungen. Sie war eine
solche Außenseiterin – in ihrer Jugend hatte das
alles nie eine Rolle gespielt.
    In einem Flur, der ein wenig
abseits der Hauptturnhalle lag, blieb Jenny stehen und horchte. Irgendwo in der
Nähe war ein Gewichtheberaum; sie hörte das Dröhnen der Eisenscheiben und das
Stöhnen, das auf bevorstehende Leistenbrüche hindeutete – ein ausgesprochener
Krankenschwesterngesichtspunkt. Jenny hatte tatsächlich den Eindruck, dass das
ganze Gebäude ächzte und presste, als litten sämtliche Schüler der Steering
School an Verstopfung und wollten sich in der abscheulichen Turnhalle
Erleichterung verschaffen.
    Jenny Fields fühlte sich geschlagen,
so wie sich nur ein Mensch fühlen kann, der immer achtsam gewesen ist und sich
plötzlich mit einem Fehler konfrontiert sieht.
    In diesem Moment tauchte ein
blutender Ringer vor ihr auf. Jenny wusste nicht, wie ihr geschah, als der
angeschlagene, tropfende Junge unversehens vor ihr stand, aber von dem Gang mit
den kleinen, harmlos wirkenden Räumen ging eine Tür ab, die sich plötzlich
öffnete, und dann war das Gesicht des Ringers genau vor ihr. Der Kopfschutz saß
so schief auf seinem Schädel, dass der Kinnriemen ihm in den Mund gerutscht und
die Oberlippe zu einem fischartigen Grinsen verzogen war. Die kleine Schale an
dem Riemen, die vorher sein Kinn gehalten hatte, lief jetzt voll mit dem Blut,
das aus seiner Nase strömte.
    Als Krankenschwester ließ Jenny
sich nicht übermäßig von Blut beeindrucken, aber sie duckte sich wegen der [110]  voraussehbaren
Kollision mit dem stämmigen, verschwitzten, bullig wirkenden Jungen, der es
jedoch noch irgendwie schaffte, ihr auszuweichen und zur Seite zu taumeln.
Bewundernswert, was Flugbahn und Menge betrifft, erbrach er sich auf seinen
Sportkameraden, der sich bemühte, ihn zu stützen. »Verzeihung«, gurgelte er,
denn die meisten Jungen von Steering waren gut erzogen.
    Sein Sportkamerad tat ihm den
Gefallen, seinen Kopfschutz abzunehmen, damit der Unglückliche nicht an seinem
Erbrochenen würgte oder erstickte; er achtete kaum darauf, dass er selbst
besudelt war, und rief laut durch die offene Tür des Ringerraums: »Carlisle
hat’s nicht mehr geschafft!«
    Durch die Tür jenes Raumes,
dessen Hitze Jenny anzog wie ein tropisches Treibhaus mitten im Winter,
antwortete die klare Tenorstimme eines Mannes. »Carlisle! Sie haben zweimal von dem Kantinenfraß nachgefasst, Carlisle! Schon
beim ersten Mal hätten Sie verdient zu kotzen! Kein Mitleid, Carlisle!«
    Carlisle, für den es kein Mitleid
gab, schleppte sich den Gang weiter; er blutete und rülpste sich zu einer Tür
vor, durch die er seinen triefenden Abgang machte. Sein

Weitere Kostenlose Bücher