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Garp und wie er die Welt sah

Garp und wie er die Welt sah

Titel: Garp und wie er die Welt sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Schulleistungen aus. Garp war in
Wirklichkeit kein begabter Schüler, aber er hatte Anleitung; viele seiner Kurse
waren Jenny noch frisch im Gedächtnis, und sie war eine gute Einpaukerin. Von
Natur aus war Garp wahrscheinlich kaum mehr zu intellektueller Betätigung
befähigt als seine Mutter, aber er hatte Jennys eiserne Disziplin; eine
Krankenschwester ist von Natur aus zu systematischer
Arbeit befähigt, und Garp glaubte an seine Mutter.
    Jenny versagte als Ratgeberin
höchstens auf einem Gebiet. Sie hatte sich nie um den Sportunterricht an der
Steering School gekümmert und konnte Garp nicht sagen, [103]  welche Sportarten ihm
vielleicht gefallen würden. Sie konnte ihm sagen, dass die Ostasiatischen
Kulturen von Mr. Merrill ihm besser gefallen würden als das England der Tudors
von Mr. Langdell. Aber Jenny kannte zum Beispiel nicht die Freuden und Leiden
des Football und auch nicht des Fußballs. Sie hatte nur beobachtet, dass ihr
Sohn klein, kräftig, gelenkig, schnell und ein Einzelgänger war; sie nahm an,
er wisse schon, welche Sportarten ihm gefallen würden. Er selbst wusste es
nicht.
    Mannschaftssport, dachte er, ist
blöd. Ein Boot im Takt rudern, ist blöd, sein Ruder wie ein Galeerensträfling
in fauliges Wasser eintauchen – und der Steering River war in der Tat faulig.
Auf dem Wasser schwammen Fabrikabfälle und menschlicher Kot – und die
Schlammlachen waren immer mit dem schleimigen Salzwasserschaum bedeckt, den die
Flut zurückließ (eine schmierige Masse, die aussah wie erkalteter ausgelassener
Speck). Everett Steerings Fluss war voller Schmutz und Schlimmerem, aber selbst
wenn sein Wasser glasklar gewesen wäre: Garp war nun einmal kein Ruderer. Und
auch kein Tennisspieler. In einem seiner ersten Essays – in seinem ersten Jahr
auf der Steering School – schrieb Garp: »Ich mache mir nichts aus Bällen. Der
Ball steht zwischen dem Sportler und seinem Sport. Das Gleiche gilt für
Eishockey-Pucks und Federbälle – und Schlittschuhe drängen sich genau wie Skier
zwischen den Körper und den Boden. Und wenn man seinen Körper durch ein
Verlängerungsutensil – ein Racket, einen Schlagstock oder einen Schläger – noch
weiter vom Kampf distanziert, ist die ganze Reinheit der Bewegung, jede Kraft
und Konzentration verloren.«
    [104]  Da er für Football zu klein
war und zu Fußball entschieden ein Ball gehörte, machte er Langstreckenlauf,
was Geländelauf genannt wurde. Aber er trat in zu viele Pfützen und litt den
ganzen Herbst unter einer Dauererkältung.
    Als die Wintersportsaison begann,
war Jenny bekümmert über die Ruhelosigkeit ihres Sohnes. Sie tadelte ihn: Er
mache zu viel Theater wegen der Entscheidung für einen Sport, und warum er denn
nicht wisse, welche Sportart ihm die liebste sei? Aber Sport war in Garps Augen
keine Erholung. Nichts war in Garps Augen Erholung.
Er schien von Anfang an zu glauben, man müsse ständig irgendetwas Anstrengendes
bewältigen. (»Schriftsteller lesen nicht zum Spaß«, sollte Garp später in
eigener Sache schreiben.) Noch bevor der junge Garp wusste, dass er
Schriftsteller werden würde, oder wusste,was er
überhaupt werden wollte, gab es offenbar nichts, was er »zum Spaß« tat.
    Garp musste an dem Tag, an dem er
sich für einen Sport im Winterhalbjahr eintragen sollte, auf der Krankenstation
bleiben. Jenny wollte ihn nicht aus dem Bett lassen: »Du weißt doch sowieso
nicht, wofür du dich eintragen willst.« Alles, was Garp tun konnte, war husten.
    »Zu albern! Wirklich kaum zu
glauben!«, schimpfte Jenny. »Da lebst du fünfzehn Jahre unter diesen
hochnäsigen, ungezogenen Leuten – und bringst dich halb um, wenn du dich
entscheiden sollst, welchen Sport du treiben willst, um dich nachmittags zu
beschäftigen.«
    »Ich habe meine Sportart noch
nicht gefunden«, krächzte Garp. » Eine Sportart muss
ich mir suchen.«
    »Warum?«, fragte Jenny.
    »Ich weiß es nicht«, stöhnte er
und hustete und hustete.
    [105]  »Mein Gott, hör sich das einer
an!«, klagte Jenny. »Jetzt werde ich dir einen Sport
suchen«, sagte sie. »Ich gehe jetzt zur Turnhalle und trage dich für
irgendetwas ein.«
    »Bitte nicht!«, flehte Garp.
    Und Jenny sprach aus, was für
Garp während seiner vier Jahre auf der Steering School ihre ewige Litanei
werden sollte: »Ich weiß mehr als du, nicht wahr?« Garp sank auf sein
verschwitztes Kissen zurück.
    »Aber nicht darüber, Mom«, sagte er. »Du hast alle Kurse besucht, aber du hast nie
in einer Mannschaft

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