Garp und wie er die Welt sah
sie werde das Problem
bei ihrem Vater zur Sprache bringen, und vielleicht werde Ernie Jenny
irgendeinen Rat geben. Ernie Holm mochte Jenny; er nahm sie gelegentlich mit
ins Kino. Jenny war sogar so etwas wie ein Ringerfan geworden, und obwohl es
zwischen ihnen nicht mehr als Freundschaft geben konnte, war Ernie sehr
feinfühlig, was die Geschichte von der ledigen Mutter betraf – er hatte Jennys
Version gehört und sie akzeptiert als alles, was er zu wissen brauchte, und
verteidigte Jenny energisch gegenüber allen, die in ihrer Neugier gern mehr
erfahren hätten.
In kulturellen Dingen fragte
Jenny jedoch Tinch um Rat. Sie fragte ihn, wohin ein Junge und seine Mutter in
Europa fahren könnten – wo das künstlerischste Klima, welches der beste Ort zum
Schreiben sei. Mr. Tinch war 1913 zuletzt in Europa gewesen und nur einen
Sommer lang. Er war zuerst in England gewesen, wo es noch mehrere lebende
Tinchs gab – seine britischen Vorfahren –, aber [152] seine alten Verwandten
hatten ihm Angst gemacht, indem sie ihn um Geld baten, und zwar um so viel und
auf so unverschämte Art und Weise, dass Tinch schnell auf den europäischen
Kontinent hinüberfloh. In Frankreich waren die Leute jedoch ebenfalls
unverschämt zu ihm gewesen, und in Deutschland waren sie laut. Da er einen
nervösen Magen hatte, fürchtete er sich vor der italienischen Küche. So war er
nach Österreich gegangen. »In Wien«, erklärte er Jenny, »fand ich das wahre
Europa. Es war b-b-beschaulich und k-k-künstlerisch«, sagte Tinch. »Man spürte
die Melancholie und die G-G-Größe.«
Ein Jahr später begann der Erste
Weltkrieg. Und 1918 sollte die Spanische Grippe viele Wiener dahinraffen, die den
Krieg überlebt hatten. Auch den alten Klimt und den jungen Schiele und Schieles
junge Frau. Vierzig Prozent der übriggebliebenen männlichen Bevölkerung sollten
den Zweiten Weltkrieg nicht überleben. Das Wien, in das Tinch Jenny und Garp
schickte, war eine Stadt, deren Leben vorbei war. Ihre Müdigkeit konnte immer
noch mit B-B-Beschaulichkeit verwechselt werden, aber sie war kaum mehr
imstande, noch viel G-G-Größe zu zeigen. Von Tinchs Halbwahrheiten würde für
Jenny und Garp nur noch die Melancholie zu erahnen sein.
»Und jeder Ort kann künstlerisch sein«, schrieb Garp später, »wenn dort ein Künstler
arbeitet.«
»Wien?«, sagte Garp zu Jenny. Er
sagte es so, wie er über drei Jahre zuvor »Ringen?« zu ihr gesagt hatte, als er
auf dem Krankenbett lag und an ihrer Fähigkeit zweifelte, einen Sport für ihn
auszusuchen. Aber er erinnerte sich, dass sie damals recht gehabt hatte, und er
wusste nichts über [153] Europa und sehr wenig über den Rest der Welt. Garp hatte
auf der Steering School drei Jahre lang Deutsch gelernt, was sich jetzt als
nützlich herausstellte, und Jenny (die kein Sprachtalent war) hatte ein Buch
über die merkwürdigen Bettgenossen der österreichischen Geschichte gelesen:
Maria Theresia und der Faschismus. Vom Kaiserreich zum
Anschluss! hieß das Buch. Garp hatte es jahrelang im Badezimmer gesehen,
aber jetzt war es nirgends mehr zu finden. Vielleicht war es dem Whirlpool zum
Opfer gefallen.
»Ich habe zuletzt Ulfelder damit
gesehen«, sagte Jenny.
»Ulfelder hat vor drei Jahren
seine Abschlussprüfung gemacht, Mom«, erinnerte Garp seine Mutter.
Als Jenny Rektor Bodger
erklärte, dass sie kündigen wolle, sagte Bodger, Steering werde sie vermissen
und jederzeit gern wieder nehmen. Jenny wollte nicht unhöflich sein, aber sie
murmelte, Krankenschwester könne man vermutlich fast überall sein; sie wusste
natürlich nicht, dass sie nie wieder Krankenschwester sein würde. Bodger
wunderte sich, dass Garp nicht aufs College wollte. Nach Ansicht des Rektors
war Garp kein Problem mehr für die Schuldisziplin gewesen, seit er mit fünf
Jahren den Sturz vom Dach des Nebengebäudes der Krankenstation überlebt hatte,
und Bodgers heimlicher Stolz auf seine Rolle bei dieser Rettungsaktion hatte
Garp seine Zuneigung gesichert. Außerdem war Rektor Bodger ein Ringerfan und
einer von Jennys wenigen Bewunderern. Aber Bodger akzeptierte es, dass der
Junge ins »Schreibgeschäft« einsteigen wollte, wie Bodger es nannte. Jenny
erzählte Bodger natürlich nicht, dass sie ebenfalls vorhatte, selber ein
bisschen zu schreiben.
[154] Dieser Teil des Plans
bereitete Garp am meisten Unbehagen, aber er sagte Helen kein einziges Wort
davon. Es ging alles sehr schnell, und Garp konnte seine Befürchtungen nur
gegenüber seinem
Weitere Kostenlose Bücher