Garp und wie er die Welt sah
Ringertrainer, Ernie Holm, aussprechen.
»Deine Mom weiß, was sie tut, da
bin ich mir ganz sicher«, erklärte ihm Ernie. »Du musst dir nur deiner selbst
sicher sein.«
Sogar der alte Tinch war voller
Optimismus, was den Plan betraf. »Es ist ein bisschen e-e-exzentrisch«, meinte
Tinch, »aber das sind viele gute Ideen.« Jahre später sollte Garp sich daran
erinnern, dass Tinchs rührendes Stottern wie eine Botschaft von Tinchs Körper
an Tinch war. Garp schrieb, Tinchs Körper habe Tinch mitzuteilen versucht, dass
er eines Tages erf-f-frieren werde.
Jenny wollte kurz nach Garps
Abschlussprüfung fahren, aber Garp hoffte, den Sommer noch in Steering zu
bleiben.
»Warum denn nur um Himmels
willen?«, fragte ihn Jenny.
Wegen Helen, wollte er ihr
erklären. Aber er hatte keine Geschichten, die gut genug für Helen waren; das
hatte er bereits gesagt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als wegzugehen und sie
zu schreiben. Ebenso wenig konnte er erwarten, dass Jenny noch einen Sommer in
Steering blieb, nur damit er sich mit Cushie Percy bei den Kanonen treffen
konnte – vielleicht sollte es einfach nicht sein. Trotzdem hoffte er, am
Wochenende nach der Abschlussprüfung mit Cushie in Verbindung treten zu können.
Bei Garps Abschlussfeier regnete
es. Der Regen klatschte in Schwaden auf den völlig durchnässten Campus; die [155] Gullys
liefen über, und die Autos von auswärts pflügten sich durch die Straßen wie
Yachten in einer Sturmbö. Die Frauen wirkten hilflos in ihren Sommerkleidern;
die Kombis wurden in aller Eile vollgestopft. Vor der Miles-Seabrook-Turnhalle
und den Sportanlagen war ein großes dunkelrotes Zelt aufgebaut worden, und
hier, in der abgestandenen Zirkusluft, wurden die Diplome ausgehändigt – die
Reden gingen im Regen unter, der auf das dunkelrote Zeltdach prasselte.
Niemand blieb lange. Die
Straßenkreuzer verließen den Ort. Helen hatte nicht kommen können, da an der
Talbot Academy am darauffolgenden Wochenende die Abschlussfeier war und sie
noch mitten im Examen saß. Cushie Percy dagegen war bestimmt unter den
Besuchern der enttäuschenden Zeremonie gewesen, da war Garp ganz sicher; aber
er hatte sie nicht gesehen. Er wusste, dass sie bei ihrer lächerlichen Familie
sein würde, und Garp war klug genug, Abstand zu Fat Stew zu halten – ein Vater
blieb ein Vater, auch wenn Cushman Percys Ehre schon lange zuvor geraubt worden
war.
Als die Spätnachmittagssonne durchkam,
änderte das auch nicht mehr viel. Steering dampfte, und der Boden würde noch
tagelang durchweicht sein – vom Seabrook-Stadion bis hin zu den Kanonen. Garp
stellte sich die tiefen Rinnsale vor, die, wie er wusste, jetzt das weiche Gras
bei den Kanonen durchzogen; selbst der Steering River würde angeschwollen sein.
Die Kanonen würden überlaufen; die schräg nach oben gerichteten Rohre füllten
sich jedes Mal mit Wasser, wenn es regnete. Bei solchem Wetter spien die
Kanonen Ströme von Glassplittern aus und hinterließen [156] schleimige Pfützen mit
gebrauchten Kondomen auf dem fleckigen Beton. An diesem Wochenende würde keine
verführerische Cushie bei den Kanonen warten, das wusste Garp.
Aber die Dreierpackung Kondome
knisterte wie ein winziges trockenes Hoffnungsfeuer in seiner Tasche.
»Hör zu«, sagte Jenny. »Ich habe
Bier gekauft. Fang an, und betrink dich, wenn du willst.«
»Gott, Mom«, sagte Garp. Aber er
trank ein paar Flaschen mit ihr. Sie saßen allein zusammen an seinem
Abschlussabend – die Krankenstation nebenan war leer, und auch die Betten im
Nebengebäude waren leer und abgezogen – bis auf die Betten, in denen sie
schlafen würden. Garp trank das Bier und überlegte, ob jetzt alles den Bach
runtergehen würde; er beruhigte sich mit dem Gedanken an die wenigen guten
Geschichten, die er gelesen hatte. Aber trotz seiner Steering-Bildung war er
kein großer Leser – mit Helen oder Jenny zum Beispiel konnte er es nicht
aufnehmen. Garps Umgang mit Geschichten bestand darin, sich eine auszusuchen,
die er mochte, und sie dann immer wieder zu lesen. Während seiner Zeit an der
Steering School las er Joseph Conrads Der geheime Teilhaber vierunddreißigmal. Und D. H. Lawrences Der Mann, der Inseln
liebte las er einundzwanzigmal; jetzt fühlte er sich bereit, diese
Geschichte abermals zu lesen.
Draußen vor den Fenstern der
winzigen Wohnung im Nebengebäude der Krankenstation lag der Campus von Steering
dunkel und nass und verlassen da.
»Betrachte es doch einmal so«,
sagte Jenny, die die
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