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G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke

Titel: G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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stehen, um sich den Hals nach den Sehenswürdigkeiten zu verrenken. Da Moose Kollow (wie erst kürzlich auf der Titelseite des Kulturteils von USA Today gestanden hatte) zu den zehn technologisch unterentwickeltsten Orten des US-amerikanischen Festlands gehörte und Eddie das erste Mitglied seiner Familie in drei Generationen war, das eine größere Stadt als Bangor besuchte, erschien ihm alles neu und aufregend: die Elelctro-Neger, die auf den Bürgersteigen Zeitungen verkauften, die mit Anticrashsystem ausgerüsteten Taxis, die auf den überfüllten Straßen ein Zusammenstoßvermeidungsballett vollführten, die monolithische Architektur, die in jeder Richtung den Horizont aussperrte.
    Harry Gant wäre stolz - wenn auch kaum überrascht - gewesen zu erfahren, daß der Gant Phoenix Eddie Wilders absolutes Lieblingsgebäude in ganz Manhattan war. Natürlich, hätte man Eddie gefragt, wäre seine Antwort gewesen, sein Favorit sei das Empire State Building. Er wußte nicht, daß es das Empire State Building gar nicht mehr gab - seit der Christnacht 2006 nicht mehr, als eine vollbesetzte 747-400-Maschine direkt nach dem Start von Newark International von einem Meteoriten getroffen worden und, völlig manövrierunfähig, kreischend über den Hudson angeschlingert gekommen war. Der gefeierte Katastrophenchronist Tad Winston Peller hatte den Unfall in seinem Me-gabestseller Empy und Flug 52 in allen Einzelheiten beschrieben, aber da es in Moose Hollow weder einen Buchladen noch eine öffentliche Bibliothek gab, hatte Eddie Wilder das Werk nicht gelesen. Ebensowenig hatte er - da Moose Hollows einzige Zeitung, der Hollow Point , fast ausschließlich über das Töten und Verspeisen großer Vierbeiner berichtete - eine der Pressemeldungen mitbekommen, in denen der aufstrebende Business-Mo-gul Harry Gant gelobt hatte, das berühmte Wahrzeichen in Rekordzeit wiederaufzubauen, »aber in zeitgemäßerer Form, mit einem neuen Namen und in jeder Raumachse zweimal so groß«.
    So gesehen war Eddies Irrtum also verständlich. Zwar schienen die Proportionen des Phoenix nicht ganz mit denen des Gebäudes übereinzustimmen, das auf der Schwarzweißpostkarte zu sehen war, die sein Urgroßvater bei seiner Rückkehr vom Koreakrieg in New York gekauft hatte, aber nun - in echt, vermutete Eddie, waren Sachen wohl immer größer als auf Bildern.
    Das einzige, was Eddie am Phoenix auszusetzen hatte, waren die Digitalen Plakatwände, in Dreiviertelhöhe des Wolkenkratzers aufgehängte riesige stroboskopisch pulsierende Lichtmosaike, die ihm wie eine Verunstaltung nationalen Kulturerbes erschienen. Es gab vier von diesen rund zwanzig Stockwerke hohen Leuchttafeln, an jeder Seite des Gebäudes eine. Die dargestellten Reklamen rückten viertelstundenweise weiter, so daß, wenn beispielsweise der Coca-Cola-Schriftzug nach Westen leuchtete, man wußte, daß es zwischen fünfzehn und dreißig Minuten nach der vollen Stunde war. Aus dem Bild, das momentan an der Westseite zu sehen war, wurde Eddie allerdings nicht schlau, was seine Gereiztheit nur noch verstärkte - wie ein Witz, dessen Pointe er nicht kapierte. Es sah aus wie ein Blatt aus einem riesigen Abreißkalender, nur daß darauf kein Datum zu lesen war, sondern bloß eine Zahl, 997, in Rot auf weißem Hintergrund.
    »Machen Sie nicht son Gesicht«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Niemand weiß, was zum Teufel das heißen soll, nicht mal Harry selbst.«
    Eddie drehte sich um und fand sich einer Frau gegenüber -ungefähr seine Größe, unscheinbares Gesicht, aber mit den Lachfältchen um Augen und Mund, die in der Regel einen humorvollen Menschen kennzeichnen. Ihr Haar (ebenso unscheinbar, von einem unauffälligen Braun) war zu einem strähnigen Pferdeschwanz gebunden; dem Gesamteindruck nach konnte sie Ende Dreißig oder Anfang Vierzig sein. In der rechten Hand hielt sie eine brennende Zigarette; in der linken einen der neusten Marvel-D.C.-Comics, Die Rückkehr derJeanne d'Arc.
    Normalerweise hätte Eddie (er selbst war ein begeisterter Spi-derman- Abonnent) nach dem Comicheft gefragt, aber jetzt war er in New York und wollte sich so schnell wie möglich eine entsprechend coole Haltung zulegen. Also zeigte er statt dessen auf die Zigarette und sagte in einem, wie er hoffte, angemessen großstädtisch-rüden Ton: »Das sollten Sie besser lassen.«
    Anstatt zu antworten, tat sie einen Zug, nicht trotzig-unver-schämt - sie blies ihm-den Rauch nicht ins Gesicht -, sondern wie um ihm zu verstehen

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