Gauß: Eine Biographie (German Edition)
Freundeskreises von Carl Friedrich Gauß und als Herold des verehrten Idols. Hier finden keine Gespräche auf Augenhöhe statt. Nicht mit einem Kollegen sitzt man zusammen und betreibt Konversation, sondern man nähert sich mit angemessener Ehrfurcht einem unvergleichlichen Heroen der Wissenschaft, denn «während alle andern» – wie Sartorius selbst versichert – «uns als unseres Gleichen erschienen, stand er zwischen uns wie eine überirdische Natur, wie ein Priester, der am Throne der Gottheit die Wache hält und auf der anderen Seite war er der schlichte einfache Mann, beseelt vom tiefsten Gefühle der Demuth vor jener alles durchdringenden Intelligenz, die von einem Sonnensystem zum anderen im Weltall widerklingt» [Wal: 102]. Der ebenfalls zur Göttinger Tafelrunde gehörende Physikprofessor Johann Benedikt Listing begleitete Sartorius auf einer seiner Sizilienreisen zum Ätna und bescheinigt dem Freund «ein argloses kindliches … aber auch poetisches Gemüth … wobei die Stärke seiner Zu- und Abneigungen zuweilen ans Excentrische grenzen konnte» [Lis: 24]. Auf Sizilien immer mit dabei: ein speziell angefertigtes, tragbares Gauß’sches Magnetometer, mit dem Sartorius regelmäßig die Intensität des Erdmagnetfelds rund um den Vulkan misst.
An diesem letzten Julitag des Jahres 1854 auf dem Bahnhofsgelände in Göttingen fühlt Sartorius sich in der dichtgedrängten Menschenmenge sowohl für seinen kleinen Sohn als auch für den Hofrat verantwortlich, der sich in der euphorischen Stimmung und aus eigener Begeisterung für die Eisenbahn heraus womöglich zu eigenwilligen Schritten hinreißen ließe, die seiner angegriffenen Gesundheit schaden könnten. Die Ehrengäste aus Sarstedt, Einbeck und Bad Gandersheim eilen jetzt an ihnen vorbei, weil der geordnete Abmarsch in die Stadt bevorsteht, flankiert von den seit einer Stunde strammstehenden Paramilitärs und angeführt vom Spielmannszug der Husaren und deren ewig fröhlichen Fanfaren. Sie möchten ihre fetzige Siegesgewissheit in die Welt hinauströten, kommen dabei aber nie über eine Handvoll Variationen ein und derselben schrillen Ankündigungsphrase hinaus. Diese primitiven Instrumente können einfach von Natur aus nichts Gedämpftes und passen daher auf lautmalerischer Ebene ausgezeichnet zum «satanischen Pfeifen» (Rossini), Stampfen und Zischen der Eisenbahn und ihrer rohen metallischen Gewalt, die Pferde scheuen und ungewarnte Kleinkinder schon mal in Tränen ausbrechen lässt.
Carl Friedrich Gauß hat Sartorius von Waltershausen Einblick in seine kuriosen Zahlenverzeichnisse gewährt: penibel über viele Jahre hinweg geführte Listen mit den Ergebnissen der Kartenspiele im vertrauten Freundeskreis. Die Herren spielen regelmäßig Whist in Göttingen, ein Vorläufer von Bridge. Gauß notiert bei jedem einzelnen Spiel die Verteilungen der Asse in den Händen der vier Spieler. Kein ausschließlich vergnüglicher Zeitvertreib, wie es scheint, sondern eher ein typischer Fall, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Es geht ihm darum, dem «sogenannten Gesetz der großen Zahlen in der Wahrscheinlichkeitsrechnung» [Ahr: 92] mit weichen Daten auf die Spur zu kommen, die mitten aus dem Leben gegriffen sind. Völlig zweckfrei aber und nur dem privaten Amüsement dienen seine Verzeichnisse der Lebenstage berühmter Persönlichkeiten und Freunde. Während alle anderen Kollegen sich gegenseitig artig zum Geburtstag gratulieren, schickt Gauß manchem Freund außer der Reihe schon mal einen ganz besonderen Glückwunsch. «Es ist übermorgen der Tag», hat er gerade vor einem halben Jahr an Alexander von Humboldt geschrieben, «wo Sie, mein hochverehrter Freund […] dasselbe Alter erreichen, in welchem Newton seine durch 30 766 Tage gemessene irdische Laufbahn geschlossen hat» [Ahr: 215]. Eine originelle Form der Wertschätzung, denn Gauß verehrt Newton mehr als jeden anderen Wissenschaftler.
Gauß, der zwar Göttingen seit zwanzig Jahren nicht mehr verlassen hat, gleichwohl zeitgemäß in Wertpapiere der Königlich Hannöverschen Staatseisenbahnen investiert * , sieht und fühlt nun an diesem letzten Julitag des Jahres 1854 erstmals selbst mit allen Sinnen, dass die Eisenbahn nicht einfach nur ein weiterer technischer Fortschritt ist, sondern eine echte Zäsur in der Geschichte darstellt, weil sie das Raum- und Zeitempfinden einschneidend verändert hat. In diesem Jahr ist von Heinrich Heine, der in Göttingen studiert hat und jetzt in Paris
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